Die Blumenwiese
Ich sitze in einer Blumenwiese, der Wind bewegt die Gräser. Die Wiese sagt mir: Die Welt ist wunderschön. Harmonisches Zusammenleben ist möglich. – Diese Pracht hilft jeder und jedem, der in ihr sitzt, zu erkennen, was wichtig ist. Auch wenn ich nun den Grillen nachstellen oder über Biodiversität nachdenken könnte, kommt mir genau hier, wegen dieser stillen Schönheit, die schändliche Motion von FDP-Ständerätin Petra Gössi in den Sinn. Auch Petra Gössi könnte sich in eine Blumenwiese setzen!, denke ich.
Umso erschreckender erscheint mir, dass sie nichts Besseres zu tun hat, als die hetzerische Idee zu verfolgen, 300 Eritreer nach Ruanda auszuschaffen. Dieser Kompassverlust! Wenn es doch Blumenwiesen gibt, in die sie sich setzen könnte!
Ich bin sicher, Sie finden obigen Gedankengang – schnurstracks von den Gräsern zur Asylpolitik – jetzt reichlich absurd. Ich leide gewissermassen wie Frau Gössi an einer Déformation professionnelle. Manchmal scheint mir, dass mein Blick zwar weit ist – so weit er halt sein kann mit zwei Augen –, meine Betrachtungen aber immer wie in einem Trichter nach unten rutschen und durchs Röhrchen schliesslich auf dem Boden landen, der dann wäre: da, wo Menschen besonders schlecht behandelt werden. Beim Nothilfesystem in der Schweiz.
Kürzlich fragte mich einer, warum ich mich für diesen Job respektive dieses Engagement (es war nicht immer schon bezahlt) entschieden habe. Irgendwie trennte mich die Frage von ihm. Ich spürte bei der Frage seine Verwunderung darüber mitschwingen, dass ich ständig in diesen Trichter schaue. Da liegen solch blumige Verlockungen vor ihrer Tür, denkt er sich wohl, und sie schaut in den Trichter!
Die Antwort auf die Frage, warum eine wie ich im Themenfeld Asyl gelandet ist, ist schon oft gegeben worden. Sie ist langweilig und geht so: Ich hatte das Glück, in für die Schweiz «normalprivilegierte» Verhältnisse hineingeboren zu werden, hatte eine glückliche Kindheit und von den Eltern und so weiter mitbekommen, dass Gerechtigkeit ein hoher Wert ist. Als mir dann klar wurde, dass im braven Land, in dem ich lebe, nicht alles mit so rechten Dingen zu- und hergeht, wie ich es selbst immer erlebte, da regte sich eine Empörung in mir, die rausmusste und immer noch rausmuss.
Es war also, und ist immer noch, eigene Betroffenheit. Ich wähle das Wort jetzt mal, auch wenn ich sehr gut weiss, dass ich nicht «Betroffene» bin. Genau in der Kippbewegung dieses Wortes liegt die Möglichkeit, sich zu verbinden. Leider gelingt die Verbindung durch beidseitige Betroffenheit nicht immer. Petra Gössi und ich könnten wohl noch so sehr in der gleichen Wiese sitzen. Während ich die Blumenwiese zum grossen Vorbild für die Menschheit küren würde, hätte sie vielleicht bloss Heuschnupfen.
Immer freitags lesen Sie auf woz.ch einen Text unserer Gastkolumnistin Hanna Gerig. Gerig ist seit acht Jahren Koleiterin des Vereins Solinetz, der sich für geflüchtete Menschen im Raum Zürich einsetzt. Ihre Arbeit gefällt ihr sehr. Und doch fragt sie sich manchmal, was sie da eigentlich tut; warum sie und warum das.