Krieg in der Hosentasche

Es war eines dieser Ereignisse, bei dem im Moment niemand versteht, was geschieht. Ein Gemüsestand von oben gefilmt, offenbar von der Überwachungskamera, plötzlich explodiert etwas, ein Mann geht zu Boden. Dieselbe Perspektive, an der Kasse eines Supermarkts, der Kunde, der gerade bezahlen will, schaut nach unten und wird zu Boden geworfen. Auf Trottoirs, in Autos, auf Motorrädern, zu Hause – überall lagen einzelne Menschen plötzlich blutüberströmt am Boden.

Es waren keine Luftangriffe, keine gezielten Drohnenschläge. Stattdessen: Explosionen von Pagern, diesen anachronistischen Kommunikationsgeräten, die doch eigentlich längst von Smartphones überholt worden sind, die jedoch von der Hisbollahmiliz zur Kommunikation unter ihren Mitgliedern gebraucht wurden. Weil sie, so sagte es Hisbollahanführer Hassan Nasrallah in einer Rede im Februar selbst, weniger einfach zu überwachen seien als Handys. Zeitgleich sind Tausende dieser Geräte in den Hosentaschen, in den Händen ihrer Besitzer explodiert, überall im Libanon.

Fast 3000 Menschen wurden verletzt, darunter der iranische Botschafter. Zwölf Menschen starben, darunter zwei Kinder. Manchen riss es die Hände weg, andere wurden mit blutüberströmten Gesichtern in die Krankenhäuser Beiruts und von Städten im Süden des Landes gebracht. Um fünf Uhr abends, anderthalb Stunden später, stauen sich die Autos in den Strassen, Soldaten versuchen mit wilden Handzeichen erfolglos, sie in eine Kolonne zu dirigieren, um Platz zu machen für die Ambulanzen, deren Sirenen überall in der Stadt heulen.

Am späteren Abend dann sind die Strassen ausgestorben, die Spitäler in Beirut und im Süden des Libanon voll. Das AUB Medical Center, eines der grössten privaten Krankenhäuser mitten in Beirut, meldet, dass in allein drei Stunden sechzig Verletzte eingeliefert worden seien. Das Chaos, die Verwirrung darüber, was genau geschehen ist, erinnert an die gewaltige Explosion vor vier Jahren am Hafen von Beirut: Damals dachten viele Menschen im ersten Moment, dass es ihr Haus, ihr Viertel gewesen sei, das Ziel eines Angriffs geworden sei. Erst später wurde das wahre Ausmass, die Gleichzeitigkeit der Gewalt klar.

Die Pagerexplosionen von gestern sind der grösste Schlag gegen die Hisbollah seit Beginn des Krieges vor einem Jahr. Dass sie diesen Angriff nun zum Anlass nimmt, ihrerseits den Krieg eskalieren zu lassen, ist unwahrscheinlich. Anders als ihre Propaganda von der Zerstörung Israels vermuten lassen würde, war die Hisbollah seit letztem Oktober nie an einem grossen Krieg mit Israel interessiert. Dass es offenbar gelungen sein muss, eine Lieferung von Pagern mit kleinen Sprengkörpern zu versehen und diese gestern aus der Ferne gleichzeitig zu zünden, zeigt ein massives Sicherheitsversagen der Hisbollah. Auch wenn Israel selbst sich bisher nicht zu dem Anschlag bekannt hat, zweifelt niemand daran, dass der israelische Geheimdienst hinter der Aktion steckt.

Nach jüngsten Berichten sieht es eher so aus: Israel hat die mit Sprengstoff versehenen Pager eingeschleust, um sie im Fall eines grossen Kriegs einzusetzen. Weil die Aktion aufzufliegen drohte, sei Israel «gezwungen» gewesen, die Pager schon gestern zu zünden. Ein Angriff, den der Menschenrechtsbeauftragte der Uno, Volker Türk, als Verstoss gegen internationales Recht verurteilte.

Nach Redaktionsschluss erreichte uns die Meldung, dass es am Mittwochnachmittag im Libanon offenbar erneut zu Explosionen gekommen ist. Diesmal waren laut Nachrichtenagenturen keine Pager, sondern Funkgeräte von Hisbollahmitgliedern betroffen.