«Unter Nazis»: Nachtgedanken
Weil Jakob Springfeld diese Woche krankheitsbedingt keine neue Kolumne verfassen konnte, präsentieren wir stattdessen einen Auszug aus dem Kapitel «Nachtgedanken» aus seinem Buch «Unter Nazis». Wir wünschen Jakob gute Genesung und freuen uns auf einen neuen Text am nächsten Freitag!
Aus «Nachtgedanken», 13. April 2021
Tom und ein paar Freund:innen, alles stadtbekannte Linke, waren am Freitagabend Plakate für den 1. Mai kleben. Das Industriegebiet an der Marienthaler Strasse neben sich, wateten sie mit vollbepackten Rucksäcken durch die Dunkelheit. Nur hier und dort warf eine Strassenlaterne einen Lichtkegel auf den schwarzen Asphalt. In der Ferne konnten sie ein blaues Schimmern sehen, die Beleuchtung der Aral-Tankstelle. Als langsam ein weisser Mercedes vorbeirollte, ahnte Tom nicht, dass es sich um einen Spähtrupp handelte. In dem Auto sass Lars Kujath. Er ist der Vater von Sanny Kujath, der Nachwuchsgrösse in Sachsens rechtsextremer Szene und der mutmassliche Gründer der «Jungen Revolution», einer Organisation, die sogar den Verfassungsschutzbehörden bestens bekannt ist.
Tom sah dem Mercedes einen Moment nach, bevor er in der Dunkelheit verschwand, dann stapften er und sein linker Plakatiertrupp weiter, ohne sich etwas dabei zu denken. Es waren noch hundert Meter bis zur Aral-Tankstelle, als der weisse Mercedes wiederauftauchte, gefolgt von zwei schwarzen Limousinen, vollgestopft mit Jugendlichen mit Seitenscheiteln oder geschorenen Köpfen. Der Mercedes parkte am Gehweg, die schwarzen Limousinen stellten sich quer auf die Marienthaler Strasse – genau zwischen Tom und die Tankstelle. Tom wusste, dass er nur eine Chance hatte. Rennen, und zwar bloss nicht zurück ins menschenleere Industriegebiet, sondern vorbei an den schwarzen Limousinen, zu den Zapfsäulen der Aral, hinein ins Sichtfeld der Überwachungskameras. Tom sprintete los. Die anderen folgten. Sie preschten, ihre schweren Rucksäcke hin- und herschaukelnd, an den Neonazis vorbei. Die schwarzen Limousinen setzten sich wieder in Gang, allerdings nur für ein paar Meter. Sie parkten gegenüber der Tankstelle und rührten sich nicht mehr. Die Neonazis machten es sich bequem, wohlwissend, dass sie jetzt nur noch abwarten müssen. Tom und die anderen waren eingekesselt von einem rechten Schlägertrupp.
Tom schnappte sein Handy, öffnete den Messengerdienst Signal und fing an zu tippen. «Hängen in der Aral-Tankstelle fest. Mehrere Autos mit Faschos stehen davor.» Dann noch eine Nachricht. «Wir wissen nicht, was wir tun sollen.» Und noch eine: «Kann uns jemand hier rausholen?» An den Anfang jeder dieser Nachrichten setzte Tom die Ziffer Drei. Um für solche Situationen gewappnet zu sein, haben wir vor ein paar Jahren eine Messengergruppe aufgemacht, die wir «SOS – Fascho-Alarm» getauft haben. Es gibt darin drei Eskalationsstufen. Eins: Neonazis gesichtet. Zwei: Ich bin womöglich in Gefahr. Drei: Holt mich so schnell es geht hier raus!
Die Fensterscheibe des weissen Mercedes glitt immer wieder herunter. Kujath dokumentierte Toms Plakatieraktion mit Fotos. [...] Zwanzig Minuten warteten Tom und die anderen an der Tankstelle, bis sie abgeholt wurden. Ein paar Gleichgesinnte, andere Linke aus Zwickau, kamen mit Autos. Der weisse Mercedes und die schwarzen Limousinen verschwanden. Es war nicht der einzige Vorfall der vergangenen Tage: Die «DIY Druckbar», ein alternativer Treffpunkt im Zentrum Zwickaus, der zugleich ein Siebdruckladen ist, wurde schon oft angegriffen. Zerschlagene Fenster, beschmierte Wände, das gehört zum Alltag. Am Wochenende besuchten Neonazis den Betreiber Tony Fischer allerdings zu Hause. Sie lungerten vor seinem Haus herum. «Räume besetzen» nennt sich das wunderbar euphemistisch. Und oft funktioniert es. Natürlich wagte sich Tony in dieser Nacht nicht vor die Haustür. Bevor die Nazis abzogen, schmierten sie noch ein paar Worte auf Tonys Briefkasten: «Zecken klatschen». Haben die Menschen recht, die von «Dunkeldeutschland» sprechen, wenn sie über den Osten der Bundesrepublik reden? Haben sie recht, wenn sie Sachsen als den düstersten Punkt in der Finsternis beschreiben? Und wenn ja, was ist dann Zwickau? [...]
Ich will mich nicht einschüchtern lassen, ich will nicht als Opfer dastehen, schon gar nicht vor diesen beschissenen Nazis. Aber wir alle haben Angst. Ich hab Angst. Wenn ich bei meinem Studium in Halle nicht gerade beim Kochen mit meiner WG prokrastiniere, lerne ich Methoden der Datenanalyse, beschäftige mich mit Postkolonialer Theorie und Internationalen Beziehungen. Alles ist wunderbar akademisch – das absolute Gegenteil der knüppelharten Wirklichkeit in Zwickau. Ich wohne mit drei Kommilitonen, mit denen ich schon in Zwickau gut befreundet war, in einer WG im Zentrum der Stadt, ich höre viel Hip-Hop, geh gern auf Partys. Ich mag Mädchen. Es wäre so einfach, Zwickau jetzt den Rücken zu kehren. Es wäre leicht, diese verdammte Angst abzustreifen, wie eine Jacke, aus der ich herausgewachsen bin. Ich müsste nur die Klappe halten. Dann würde sich in Zwickau bald niemand mehr um mich scheren. Irgendwann könnte ich dann Eltern und Freund:innen besuchen ohne dieses beschissene Gefühl im Bauch.
Ich greife zu meinem Handy, öffne Twitter und fang an zu tippen ...
1:52 Uhr, 13. April 2021
… Nachtgedanken aus #Zwickau: Ich habe Angst. Wir haben Angst. Auf dem Briefkasten eines Freundes steht «Zecken klatschen», andere sind abends unterwegs und müssen sich in der Tankstelle verstecken. Ich schaue aus meinem Fenster, hoffe, dass ich wenigstens zu Hause sicher bin ...
Die Geschichte einer Jugend in Zwickau.
Jakob Springfeld (22) ist eines der Gesichter der linken Gegenöffentlichkeit Ostdeutschlands. Sein 2022 erschienenes Buch «Unter Nazis» trägt auch deshalb den Untertitel «Jung, ostdeutsch, gegen Rechts». In seiner Arbeitet als Autor berichtet er unter anderem aus seiner Lebensrealität als antifaschistischer Aktivist in Sachsen.