Deutsche Provinz: Hanna in Halberstadt
Nirgendwo gibt es so viele rechtsextreme Straftaten wie in Sachsen-Anhalt und Brandenburg. Auch bei den Gewalttaten liegen diese Regionen vorn. Nicht rechtsextreme junge Leute wandern aus, sobald sie können. Ein Augenschein.
Es sind regelmässig dieselben Gegenden, von denen der deutsche Bundesinnenminister berichtet, wenn er im Verfassungsschutzbericht das Kapitel zum Rechtsextremismus in Deutschland vorstellt. Auch diesmal fanden sich wieder die als besonders «braun» geltenden Bundesländer Sachsen-Anhalt und Brandenburg an der Spitze der Negativstatistik, als Wolfgang Schäuble Mitte Mai die Zahlen für das vergangene Jahr präsentierte. Mehr als 17 600 Fälle von politisch rechts motivierter Kriminalität wurden 2007 in Deutschland offiziell registriert, die Zahl der gewaltbereiten RechtsextremistInnen im Land wird auf 10 000 geschätzt. Gemessen an der EinwohnerInnenzahl gab es nirgendwo so viele rechte Straftaten wie in Sachsen-Anhalt und Brandenburg.
Zwar machen den Grossteil dieser Delikte sogenannte «Propagandastraftaten» aus - vornehmlich Hakenkreuz- und andere Nazischmierereien -, doch auch was die Gewalttaten anbelangt, liegen die beiden Bundesländer ganz vorn. Brandenburg verzeichnete 2007 die meisten gewalttätigen Übergriffe von rechts pro hunderttausend EinwohnerInnen, in Sachsen-Anhalt wurde mit 1350 politisch rechts motivierten Straftaten der höchste Stand der letzten Jahre erreicht. Besorgt zeigt man sich im dortigen Landesinnenministerium auch angesichts der «deutlichen Zunahme des gewaltbereiten rechtsextremistischen Spektrums» auf über 800 braune Schläger. Deren Übergriffe richten sich vor allem gegen - vermeintlich - Linke und ihre Treffpunkte.
Mit Angstschweiss in die «Zora»
Mächtig und abweisend erhebt sich die Mauer am Rande der Altstadt, wenige Meter entfernt vom mittelalterlichen Dom. Baumwipfel und ein Dachgiebel ragen dahinter in die Luft und geben eine Andeutung vom Gelände jenseits des Steinwalls. Der einzige Weg hinein führt durch eine blau gestrichene Holztür. Sie ist verriegelt. Was aussieht und gesichert ist wie eine Festung, ist das Jugendzentrum Zora in Halberstadt, einer Gemeinde mit 40 000 EinwohnerInnen im Norden Sachsen-Anhalts.
Erst als die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen ist, entspannt sich Hanna. Das schmale Mädchen mit einem Piercing in einer Augenbraue lässt sich im Jugendzentrum neben zwei Jungs auf ein Sofa fallen und fragt in die Runde: «Hat jemand eine Kippe?» In der «Zora», hinter den dicken Mauern, fühlt sich Hanna sicher. Hier ist Freundesland, draussen lauern die Feinde. «Faschos» nennt Hanna die jungen Neonazis, die das Klima in Halberstadt so stark prägen wie in kaum einem anderen Ort in Deutschland. Der Park, der Marktplatz, viele Schulhöfe und die Strassen der Altstadt gehören ihnen. Im Dunkeln als ausländischer oder erkennbar linker Mensch durch die Stadt zu laufen, kann gefährlich sein, lebensgefährlich. «Ich bekomme jedes Mal Angstschweiss, wenn ich in die 'Zora' gehe und mir einer von den Faschos begegnet», sagt Hanna, die ihren wirklichen Namen aus Furcht nicht in der Zeitung lesen möchte.
Hanna ist neunzehn Jahre alt, und wenn sie zu erzählen beginnt, klingt das wie der Bericht aus einem Kriegsgebiet. Vor drei Jahren wurde ihr Bruder schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert. Neonazis hatten ihn auf dem Heimweg am Abend niedergeschlagen, ihm mit ihren schweren Stiefeln ins Gesicht getreten und anschliessend zwei Müllcontainer auf ihn gestürzt. «Es war reines Glück, dass er überlebt hat», sagt Hanna. Noch lange später waren die Abdrücke der Stiefel in seinem Gesicht zu sehen. - Vor einem halben Jahr hatte es ihre Freundin abends im Park erwischt. Die Rechten beschimpften sie als «linke Zecke», schlugen sie und warfen sie zu Boden. «Sie haben ihr auch an die Brust gefasst», erzählt Hanna. Ein Passant muss schliesslich die Polizei gerufen haben, die Hannas Freundin half.
Rette sich, wer kann
Auf dem Sofa neben Hanna sitzt Alex und hört mit unbewegter Miene zu. Mit seinen weichen Gesichtszügen und dem rasierten Kopf wirkt der 21-jährige Alex fast kindlich. Im vergangenen Sommer zeigten die Medien tagelang dieses Gesicht: die gebrochene Nase bandagiert, eine Mullbinde über der Lippe, von Ohr zu Ohr ein Verband. Damals trug Alex noch einen schmalen Streifen roter Haare auf dem glatten Schädel, einen Irokesenschnitt, war leicht zu erkennen als Linker und ideales Opfer für rechte Schläger. Neonazis hatten ihn und dreizehn Mitglieder eines Schauspielensembles nach einer Premierenfeier im Juni 2007 in Halberstadt brutal verprügelt. Für kurze Zeit war die mediale Aufmerksamkeit in Deutschland gross, in der Stadt gab es spontane Kundgebungen gegen rechts. Seit Ende Februar aber stockt der Prozess gegen vier mutmassliche Täter vor dem Halberstädter Amtsgericht, der einzig Geständige spricht vage von einem «Gerangel», die anderen drei schweigen. Vermutlich wird die Staatsanwaltschaft die Anklage wegen mangelnder Beweise fallen lassen müssen.
Die äusseren Wunden sind verheilt, doch Alex' Stimme ist leise, als er von dem Überfall erzählt. «In den ersten Wochen danach bin ich kaum aus dem Haus gegangen», sagt er. «Auf jedem Fernsehkanal habe ich mein Gesicht gesehen, sogar auf CNN.» Hanna rutscht nervös auf dem Sofa hin und her, während Alex spricht. «Ich habe oft das Gefühl, dass ich die Nächste bin», sagt sie dann und zuckt mit den Achseln. «Hier kommt jeder mal dran.»
Dass Alex nach diesem Überfall immer noch in Halberstadt lebt, ist Hanna ein Rätsel. Sie hat die Stadt verlassen und studiert Sozialpädagogik in Braunschweig. Das Studienfach hat sie wegen ihres Sozialarbeiters in der «Zora» gewählt: «Er hat sich um mich gekümmert, als ich dreizehn war und jemanden brauchte. Er hat mir zugehört», sagt Hanna. «Ausser der 'Zora' gibt es hier doch kaum Angebote für Jugendliche.» Nur noch am Wochenende kommt sie zu den Eltern und FreundInnen zurück - und immer dann, wenn wieder ein Freund angegriffen wurde. Doch Hannas Besuche werden seltener. Sie will sich nicht mehr umdrehen müssen, wenn sie nachts durch die Strassen läuft und jemanden im Rücken spürt, nicht mehr per SMS vor bestimmten Ecken der Stadt gewarnt werden. Manche Orte meidet sie im Dunkeln, wie den «Bullenpark», in dem ihre Freundin überfallen wurde, und der so heisst, weil er gegenüber der Polizeiwache liegt.
«Normal», wie in ganz Deutschland?
Solche Vorsicht hält Eberhard Brecht, Bürgermeister im fünfzehn Kilometer entfernten Quedlinburg, für übertrieben. Es ist Samstagvormittag, Brecht steckt mitten im Wahlkampf und schüttelt eifrig Hände auf dem Quedlinburger Marktplatz. «Ja, es gibt hier ein Problem mit rechten Gewalttätern», sagt der SPD-Mann. Aber, so schränkt er ein, «das ist der normale Rechtsextremismus, wie eben in ganz Deutschland.»
Quedlinburg ist so etwas wie die hübsche kleine Schwester von Halberstadt und das Vorzeigestädtchen im Harzvorland Sachsen-Anhalts. Doch hinter restaurierten Fachwerkfassaden fehlen hier die Menschen aus der «gesellschaftlichen Mitte», wie Eberhard Brecht es formuliert, jene aus dem klassischen Mittelstand. Viele haben die Gegend auf der Suche nach Arbeit verlassen: Eine erste Welle von Akademikerinnen, Facharbeitern und Handwerkerinnen strömte noch vor dem Bau der Mauer 1961 in den Westen, eine zweite Welle folgte ihnen dreissig Jahre später nach deren Fall. So ist die Abwanderung in dieser Region Sachsen-Anhalts zwar kein neues Phänomen. Aber sie wird zunehmend zum Problem für die demokratische Kultur.
Auch in Quedlinburg gibt es junge Leute, die abends nicht alleine vor die Tür gehen, weil sie Angst vor den Rechten haben. Das bebrillte Mädchen zum Beispiel, das vor dem Theater in Quedlinburg steht und über ihre Heimatstadt sagt: «In einem halben Jahr, nach dem Schulabschluss, bin ich weg hier.» Sie erzählt vom Jugendhaus im Ort, das keine dicken Mauern hat wie die «Zora» in Halberstadt. Dreimal wurde es von rechten Schlägern überfallen, die Einrichtung wurde demoliert und die Jugendlichen wurden verprügelt. Seither lassen die BetreiberInnen ab 22 Uhr die Rollläden herunter und verriegeln die Tür. Wer dann noch ein Bier will, muss klopfen und eine Gesichtskontrolle passieren.
Genormte junge Männer
Zurück nach Halberstadt: Dort reden die meisten Leute nicht gerne über Neonazis, das Image der Stadt ist schon ramponiert genug. Für schlechte Presse sorgte neben dem Überfall auf die Theatertruppe im vergangenen Jahr auch, dass die Stadt im Frühjahr 2006 dem Druck der NPD nachgab und ein Konzert des Sängers Konstantin Wecker absagte. Trotzdem mag kaum einer ein Problem in den Rechten sehen, weder die gepflegte Mittvierzigerin im einzigen Café in der Altstadt noch die junge Frau, die im Fast-Food-Restaurant an der Ausfallstrasse einen Softdrink schlürft.
Der 26-jährige Christian sitzt breitbeinig in der Sonne auf dem Halberstädter Marktplatz und reckt das Kinn vor, als man ihn nach den Rechten fragt. Seine Haare sind kurz und blondiert, das Gesicht ist zu braun für die Jahreszeit, in jedem Ohr trägt er einen Ring. «Das sind doch nur dumme Jungs. Hier wird eh alles viel zu hochgepuscht», sagt er. Der rote Bürgermeister, der zur Partei der Linken gehört, ist ihm ein Dorn im Auge. Christian wünscht sich einen, der «deutsch» denkt. «Wir können uns nicht um die ganze Welt kümmern, wir müssen uns um uns kümmern.» Es klingt wie die Phrasen der jungen Nationaldemokraten, der Jugendorganisation der NPD, die gestern noch auf dem Marktplatz standen, um mit Passanten über den «Bombenholocaust» der Amerikaner zu diskutieren - den Luftangriff auf Halberstadt, bei dem am 8. April 1945 achtzig Prozent der Innenstadt zerstört wurden.
Gehört Christian zu den Nazis? Hanna könnte das erkennen, sie hat ein Muster, nach dem sie ihr Gegenüber abtastet: Ein «N» auf einem Turnschuh, eine gestreifte Jogginghose, all das kann ein Zeichen sein. Längst tragen die Rechten nicht mehr nur Bomberjacken mit aufgenähten Hakenkreuzen, Tarnhosen und Springerstiefel. Mehr als 120 offenkundige oder verschlüsselte Symbole und Codes rechter Gesinnungsgenossen listet die «Agentur für soziale Perspektiven» in ihrer Broschüre «Das Versteckspiel» auf. Und irgendwie gleichen sich tatsächlich fast alle jungen Männer in dieser Stadt: Kahlköpfig, mit wiegendem Gang und herausforderndem Blick schlendern sie in Gruppen durch die Strassen.
David Begrich verfolgt diese Entwicklung schon lange. Er ist Mitarbeiter im Magdeburger Verein «Miteinander». Seit 1997 beobachtet er die junge rechte Szene in Sachsen-Anhalt. Seine Einschätzung lautet nüchtern: «Rechts ist Mainstream.» In vielen Orten der ostdeutschen Provinz sei die rechte Ideologie längst «Teil des akzeptierten Meinungsspektrums», so Begrich. Jugendliche, die sich zu rechtem Gedankengut bekennten, müssten nicht mehr mit Widerspruch rechnen. Fremdenfeindlichkeit sei in der Bevölkerung weit verbreitet. Diejenigen Jugendlichen, die den «rechten Lifestyle» mit seiner Musik und Attributen wie den einschlägigen Kleidermarken Thor Steinar oder Consdaple nicht mitmachten, würden schnell zu Feinden erklärt. Laut Schätzungen des Berliner Archivs für Jugendkulturen e.V. gehören bundesweit rund 100 000 Jugendliche «rechten Cliquen» an. Das entspricht rund einem Prozent aus der Altersgruppe der 14- bis 25-Jährigen. David Begrich hält es deshalb für wichtig, «Jugendliche zu stützen, die der rechten Jugendkultur etwas entgegensetzen». Er meint damit Leute wie Hanna, die oft nicht explizit links sind, Hip-Hopper sein können oder Skaterinnen.
Hanna und ihre FreundInnen haben sich nicht dem rechten Mainstream angepasst. Viele haben den Druck der Neonazis zu spüren bekommen und sind deshalb wie die Sozialpädagogikstudentin aus Halberstadt weggegangen. Hanna will später mit Jugendlichen arbeiten, Theater und Kunstprojekte anbieten. «Es gibt so viele, die nicht wissen, was sie in ihrer Freizeit tun sollen», sagt sie. Fast klingt es, als ob sie plane, einmal nach Halberstadt zurückzukehren. Aber Hanna sagt: «Auf keinen Fall komme ich zurück. Ich will doch nicht, dass meiner Tochter der Schädel eingeschlagen wird, wenn sie sechzehn ist.»