Syrien: Zurück im IS-Trauma?

Seit einer Woche greifen die Hajat Tahrir al-Scham (HTS) und die Syrian National Army (SNA), früher als Freie Syrische Armee bekannt, weite Teile der syrischen Provinz Aleppo und der Stadt mit dem gleichen Namen an. Mittlerweile haben sie nahezu die gesamte Region erobert und sind bis nach Hama im Süden vorgestossen. Von einem Blitzangriff ist die Rede, doch für die Kurd:innen und jene, die an der Seite der Autonomen Administration Nord- und Ostsyriens stehen, kommt die Offensive keineswegs überraschend: Die Türkei, Hauptunterstützerin beider Gruppen, plante sie schon lange und hatte sie in den vergangenen Wochen und Monaten wiederholt angekündigt.

HTS und SNA werden oft als «Rebellen» oder «Oppositionskräfte» bezeichnet, doch für Kurd:innen sowie Minderheiten wie Armenierinnen, Assyrer und Aramäer:innen sind sie der Inbegriff der Gewalt. Diese Gruppen richten sich gezielt gegen Minderheiten, Frauen und Andersgläubige. Die HTS ist faktisch ein neu formierter IS. Ihre Brutalität demonstrierte sie bereits 2019: Hevrin Khalaf, Vorsitzende der Syrian Future Party, fiel einem Mordanschlag zum Opfer, ebenso der armenische Priester Hovsep Bedoyan und sein Sohn – die HTS instrumentalisierte die Taten als Propaganda und zur Einschüchterung. Auch bei den kurdischen Newroz-Feierlichkeiten 2023 wurden Kurd:innen auf offener Strasse erschossen. Die dschihadistische Prägung von HTS und SNA wird durch IS-Symbole und ehemalige IS-Kämpfer in ihren Reihen bestätigt.

In den von diesen Kräften besetzten Gebieten herrscht Angst und Schrecken. Berichte über Gewalt gegen Frauen häufen sich. Das Afrin Missing Women Project dokumentiert Hunderte Fälle von entführten und vergewaltigten Frauen. Allein die Zugehörigkeit zur kurdischen oder jesidischen Gemeinschaft kann tödlich sein. Tausende Flüchtende kauern in der Eiseskälte auf den Strassen, ohne Nahrung oder Wasser. Die eingeschränkte Kommunikation lässt das volle Ausmass der Gewalt nur langsam sichtbar werden. Eine dreiköpfige jesidische Familie aus Afrin wurde erschossen, ebenso ein Mann und sein Sohn aus der Region. Kurdische Kämpfer:innen werden entführt und vor Kameras gezerrt, es gibt Berichte über Enthauptungen.

Es drohen eine humanitäre Katastrophe und eine Neuauflage des IS-Terrors – und das, während Rojava nicht nur durch die türkische Grenzmauer isoliert wird, sondern auch durch das Unvermögen der Uno, einen humanitären Korridor zu schaffen. Der einzige existierende Korridor, Bab al-Hawa, führt in von dschihadistischen Gruppen kontrolliertes Gebiet. Nebst der Gefahr einer ethnischen Säuberung in den Städten Tel Rifat und Aleppo droht eine gravierende Verschärfung der humanitären Krise in ganz Syrien.