Was wird aus Rojava?: Wiedererwachtes Trauma

Nr. 50 –

Im kurdisch regierten Nordosten Syriens trübt Angst die Freude über Assads Sturz. Unter dem Mantel der Befreiung droht eine altbekannte Gefahr.

Beschädigte Statue von Hafis al-Assad in Kamischli, Rojava
Am Sonntag in Kamischli, Rojava: Beschädigte Statue von Hafis al-Assad, Vater des soeben gestürzten Baschar al-Assad. Foto: Orhan Qereman, Reuters

Wie ein Fremdkörper ragte die weisse Statue Hafis al-Assads bei meinem letzten Besuch in Rojava im März 2023 aus einer Verkehrsinsel mitten in der kurdischen Stadt Kamischli empor. Ein seltsamer Bruch in einer Stadt, die ansonsten die dreieckigen gelben und grünen Flaggen mit roten Sternen der kurdischen Kampfverbände YPG und YPJ zieren oder grossflächige Porträts von Abdullah Öcalan, Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans PKK.

In den letzten Jahren war Baschar al-Assads Regime dort nurmehr eine Randerscheinung – bloss ein paar von der syrischen Armee besetzte Strassenzüge, ausgeblichene Flaggen und übrig gebliebene Statuen erinnerten noch daran. Seit Samstag sind auch diese Geschichte: Die Armee ist abgezogen, die Flaggen heruntergerissen, die Statuen wurden gestürzt.

Unscharfe Trennlinien

Der Fall des Regimes läutet auch im kurdischen Autonomiegebiet eine neue Zeit ein. Doch während im Rest Syriens die Freude dominiert, mischt sich im Nordosten des Landes ein weiteres Gefühl hinein: Angst.

«Die Bevölkerung steht unter Schock. Manche freuen sich, manche fürchten sich vor den nächsten Massakern», schrieb eine Freundin aus Kamischli am Montag. Das hat einen einfachen Grund: In den bisher vom Assad-Regime besetzten Gebieten ist sich das Gros der Menschen sicher, dass, egal was kommt, besser ist als eine seit 54 Jahren andauernde Diktatur, die Zehntausende in Foltergefängnisse gesperrt, Hunderttausende abgeschlachtet und das Land in Schutt und Asche gelegt hat. In Rojava hat man indes Grund zur Sorge, dass sich die Geschichte wiederholen wird.

2012 hatten die kurdischen Einheiten der YPG/YPJ das Vakuum des syrischen Bürgerkriegs genutzt und eine autonome Selbstverwaltung im Nordosten ausgerufen, die heute über ein Drittel des syrischen Staatsgebiets umfasst. Dort wollte man nach Öcalans Ideen ein System des Demokratischen Konföderalismus aufbauen: Minderheiten- und Frauenrechte und Ökologie sollten ganz oben auf der Agenda stehen. Politische Posten wurden mit Doppelspitzen besetzt – immer jeweils einer Frau und einem Mann. Von Anfang an stand das ambitionierte Projekt allerdings unter Beschuss.

Von 2013 bis 2018 wütete in der Region der sogenannte Islamische Staat (IS). Wenn die Menschen in den kurdischen Gebieten jetzt dschihadistische Milizen auf dem Vormarsch sehen, werden bei vielen die Traumata wieder wach, die der IS hinterlassen hat: ermordete Menschen, entführte Frauen, gebrandschatzte Dörfer. Zehntausende IS-Anhänger:innen werden noch immer in den Lagern und Gefängnissen im Nordosten Syriens festgehalten, streng bewacht von den Syrian Democratic Forces (SDF), dem Militärbündnis, das den Nordosten kontrolliert und zu dem auch die YPG/YPJ gehören.

Die Angriffe auf die kurdische Selbstverwaltung gingen indes auch nach dem Fall des IS weiter – wenn auch in anderer Form: Unter Beihilfe der Syrischen Nationalen Armee (SNA), eines Zusammenschlusses von Milizen, die von der Türkei ausgebildet, bewaffnet und auf syrischem Grund eingesetzt werden, fliegt die Armee von Recep Tayyip Erdoğan Luftangriffe. 2018 überfiel die SNA die kurdische Stadt Afrin, vertrieb Zehntausende Kurd:innen – und derzeit bombardiert die Türkei Kobane, während sich die SNA gemeinsam mit der Haiat Tahrir al-Scham (HTS) von Abu Muhammad al-Dschaulani auf dem Vormarsch befindet.

«Die Linien zwischen den beiden Gruppen sind nicht ganz scharf», sagt Konfliktforscherin Rosa Burç. «Aber einen Unterschied gibt es: Während die HTS sich auf die Regimegebiete konzentriert und vorerst Absprachen mit den SDF zu treffen scheint, richtet die SNA ihre Angriffe gezielt gegen die Selbstverwaltung – mit dem Ziel, diese zu stürzen.» Gerade hat sie die von den SDF kontrollierte Stadt Manbidsch eingenommen, unterstützt durch Luftschläge der Türkei gegen kurdische Stellungen. Es gibt Berichte von Übergriffen gegen die Zivilbevölkerung in den Städten. Seit Tagen sind Zehntausende Kurd:innen auf der Flucht aus Regionen, die von HTS und SNA angegriffen werden.

Ob Rojava fortbestehe, werde sich in den nächsten Wochen entscheiden, sagte der HTS-Experte Orwa Ajjoub von der Universität Malmö in Schweden gegenüber «Zeit Online». «Das hängt vom künftigen US-Präsidenten Trump ab: Entweder ziehen die USA unter ihm ihre Truppen aus Syrien ab, dann würden die Türkei, HTS und SNA das Gebiet gemeinsam angreifen. Oder die US-Truppen bleiben, und wir steuern auf eine Teilung ähnlich wie im Irak zwischen der Zentralregierung und der Autonomen Region Kurdistan zu.»

Die Regierung von Noch-US-Präsident Joe Biden hat angekündigt, die Truppen würden bleiben, um den Kampf gegen den IS fortzuführen. Allein in den letzten Tagen hat das US-Militär gemeinsam mit den SDF Dutzende Operationen gegen IS-Schläferzellen geflogen. Gleichzeitig fordern immer mehr Syrer:innen den Abzug aller ausländischen Einheiten aus dem Land: der Russen, des Iran, der Türkei – und der USA. Und Donald Trump hat auf Social Media bereits verkündet, sein Land wolle «nichts zu tun haben» mit Syriens Krieg. Schon in seiner ersten Amtszeit hatte er das Truppenkontingent stark verringern lassen – was die Türkei prompt dazu nutzte, in den Nordosten Syriens einzumarschieren.

Proteste gegen die Selbstverwaltung

Zur Wahrheit gehört aber auch: Der Widerstand gegen das Projekt Rojava kommt nicht nur von aussen. Den meisten Kurd:innen gilt es allen Entbehrungen zum Trotz als Ort, wo sie nach der Diskriminierung durch das Assad-Regime in weitgehender Freiheit und nach dem Sieg gegen den IS in fragiler Sicherheit leben können.

Doch gerade in jenen Teilen, in denen überwiegend Araber:innen leben, schwelt schon seit längerem Unmut: In den Grossstädten Tabka und Rakka, die seit der Befreiung vom IS unter Kontrolle der Selbstverwaltung stehen, wird nur wenige Tage nach Assads Sturz gegen diese protestiert. In der Stadt Deir Essor, die erst vergangene Woche von den SDF eingenommen wurde, soll der von der Selbstverwaltung eingesetzte Sicherheitsrat nach Zusammenstössen zu den Rebellen übergelaufen sein. Die SDF ziehen sich deshalb aus der Stadt zurück.

Mit dem Konzept des Demokratischen Konföderalismus wissen die wenigsten an diesen Orten etwas anzufangen. Viele sehen die Selbstverwaltung als fremde Macht – die mithilfe der US-Truppen das Land besetzt, Kämpfer gegen deren Willen rekrutiert und viele Jahre lang mit Assad kollaboriert hat. Und sie wird dafür verantwortlich gemacht, dass die Türkei die Region immer wieder angreift. «Können sie ihren Stellvertreterkrieg nicht woanders austragen als auf unserem Land?», fragte ein Bauer bei unserem Besuch im vergangenen Jahr. Mit «sie» meinte er die Türkei und die PKK.

Dass Proteste gegen die Selbstverwaltung in der Vergangenheit meist schnell abflachten, hatte wohl auch damit zu tun, dass die Alternativen entweder Assad oder IS hiessen. Am Samstag ist jene eines geeinten freien Syriens unter dem sich moderat gebenden Dschaulani hinzugekommen. Eine Hoffnung, die von vielen Kurd:innen in Rojava nicht geteilt wird. «Für mich ist ein Diktator gegangen und ein Terrorist gekommen. Ich glaube kein Wort der toleranten Rhetorik, die in seiner Ansprache vorherrscht», schreibt die Freundin aus Kamischli. Es erinnere sie daran, wie einst Islamisten die Revolution gegen den Schah im Iran kaperten, um anschliessend einen reaktionären Gottesstaat zu errichten.

Was macht der Iran?: Die Mullahs wollen keinen Aufruhr

Der Sturz Baschar al-Assads hat auch die Position des Iran im Nahen Osten markant geschwächt: Es wird immer einsamer um die Machthaber in der Islamischen Republik, mit Assads Flucht am Wochenende verlieren sie einen wichtigen Verbündeten gegen Israel. In Damaskus plünderten Rebellen bereits die iranische Botschaft, wie dieser Tage auf den Fernsehbildern arabischer Sender zu sehen war.

Damit ist die sogenannte Achse des Widerstands zerbrochen. Die vom Iran mit seinen militanten Verbündeten im Libanon, den palästinensischen Gebieten, Syrien, dem Irak und dem Jemen formierte Front musste herbe Niederlagen einstecken. Die Hisbollah im Libanon ist geschwächt, zahlreiche ihrer Führer wurden getötet, die Hamas in den palästinensischen Gebieten ist schwer angeschlagen – und nun versteckt sich Assad in Russland. Noch vor kurzem hätte kaum jemand gedacht, dass Israel den militärischen Konflikt an mehreren Fronten so schnell und deutlich zu seinen Gunsten würde wenden können. Zum ersten Mal seit 1973 sind israelische Bodentruppen offen auf syrisches Gebiet vorgedrungen, zudem bombardiert die israelische Armee verschiedene Ziele in Syrien.

Derweil schwankt das iranische Regime: In sozialen Netzwerken schreiben manche gar von einem nahenden Ende der Mullahherrschaft. Der für viele überraschend abrupte Zusammenbruch des Assad-Regimes, das Syrien ein halbes Jahrhundert lang tyrannisiert hat, stimmt sie hoffnungsvoll.

Die islamischen Geistlichen regieren den Iran seit 45 Jahren und haben die Familie Assad jahrzehntelang mit viel Geld unterstützt. Dafür durfte der Iran in Syrien Militärstützpunkte und Raketenfabriken unterhalten und das Land dazu nutzen, der Hisbollah im benachbarten Libanon Waffen zu liefern. Syrien war ein zentraler Brückenkopf – auch um Israel unter Druck zu setzen. Aus diesem Grund stützte der Iran gemeinsam mit Russland 2015 das syrische Regime, als es kurz vor dem militärischen Kollaps stand. Damals befehligte der Iran schiitische Milizen, um Aleppo von den Aufständischen zurückzuerobern, die die Hälfte der Stadt kontrollierten. Zeitgleich kam Unterstützung aus Russland: Es bombardierte die Rebellengebiete in Syrien so flächendeckend, dass es kaum mehr als verbrannte Erde hinterliess.

Nun folgte eine drastische Kehrtwende. Assad hätte erneut Unterstützung gebraucht, um den Vormarsch der Milizen abzuwehren. Doch das vom Krieg gegen die Ukraine absorbierte Russland griff nicht ein; und auch der Iran konnte und wollte nicht helfen und zog seine Militärkommandanten ab. Kostspielige aussenpolitische Manöver wie die Unterstützung der Huthi-Milizen im Jemen haben das iranische Regime beispiellos geschwächt. Zudem sind die Mullahs mit zahlreichen innenpolitischen Schwierigkeiten konfrontiert: Sie bekommen die Rekordinflation nicht in den Griff, regelmässig protestiert die Bevölkerung auf den Strassen. Aus Sorge vor ähnlichem Aufruhr wie in Syrien vermieden sie eine weitere Konfrontation.

Wie sich die Machtverhältnisse in Syrien entwickeln werden, bleibt vorerst unklar. Aber: Der Iran steht bereits als Verlierer fest. Eine Rückgewinnung seines Einflusses auf den Nachbarn ist derzeit ausgeschlossen. Die Hisbollah, die seit der Tötung ihres langjährigen Chefs Hassan Nasrallah praktisch führungslos geworden ist, muss um ihren Waffennachschub bangen. Entsprechend sinkt ihr Einfluss auf die Geschehnisse im Libanon. Das Image des Iran als Schutzmacht seiner Verbündeten in der Region ist damit bis auf Weiteres zunichte.