Rojavas Perspektiven: Tage der Angst
Vor einem Monat wurde in Syrien das Assad-Regime gestürzt. Im kurdischen Kamischli fürchtet eine Richterin nun die Rache der Islamisten – und Geflüchtete bangen um ihre Zukunft.

In einem Gebäude mit abblätternder Fassade und vergitterten Fenstern sitzt eine Frau mit schwarzem Blazer und kajalumrandeten Augen hinter einem aus Spanplatten zusammengeschraubten Schreibtisch und versucht zu tun, als wäre alles wie immer. Vor ihr liegen ausgedruckte Gesetzestexte, in einem Regal stehen Aktenordner. «Ich habe mehr zu tun denn je», sagt sie und lächelt. Falls sie Angst hat, lässt sie es sich nicht anmerken. Gründe dafür gäbe es genug.
Amina Ali, die eigentlich anders heisst, ist Richterin. Das Gebäude am Stadtrand von Kamischli, das früher eine Polizeistation war, fungiert als «Volksverteidigungsgericht». So nennen sie im Nordosten Syriens die Gerichte, an denen Terrorist:innen verurteilt werden, allen voran jene des IS. Rund 10 000 Personen, grösstenteils Männer, sitzen hier in den Gefängnissen. Wie viele Urteile sie gesprochen hat, weiss Ali selbst nicht mehr. Ungewiss ist auch, ob die Männer, die sie Tag für Tag verurteilt, ihre Haftstrafen wirklich verbüssen müssen – oder ob sie schon bald wieder frei sind.
Hoffnung auf Autonomie
Ein Monat ist vergangen, seit am 8. Dezember Baschar al-Assad gestürzt wurde. Vieles in Syrien ist nun ungewiss. In Damaskus hat Ahmed al-Scharaa, der Anführer der islamistischen Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS), seinen Bart gestutzt und sich zum Interimspräsidenten ernennen lassen. Er versicherte, dass in seinem Syrien Platz sei für alle Minderheiten: Drusinnen, Alawiten, Armenierinnen, Assyrer – und Kurdinnen. Vielleicht ist das eine der herausforderndsten Fragen, vor denen das Land derzeit steht: Wie soll es weitergehen mit dem mehrheitlich kurdischen Nordosten?
Jenes Drittel des syrischen Staatsgebiets, das als «Rojava» bekannt ist, wird derzeit von der Demokratischen Autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien kontrolliert. Als deren Sicherheitskräfte fungieren die SDF, ein von den kurdischen Einheiten YPG/YPJ angeführtes Militärbündnis kurdischer, arabischer und assyrischer Milizen. Bereits 2012 hatten die YPG/YPJ das Assad-Regime aus Teilen des Nordens vertrieben. Und als von 2014 bis 2019 der IS wütete, waren es die Kämpfer:innen der SDF, die unter Mithilfe einer internationalen «Anti-IS-Koalition» die Region befreiten.

Viele Kurd:innen in Rojava hoffen nun, dass sie im «neuen Syrien» ihre Autonomie beibehalten können und ein föderales System entsteht. Entscheiden werden darüber am Ende allerdings nicht die Syrer:innen allein. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte zuletzt klargemacht, einen «Zerfall Syriens» oder die «Störung seiner einheitlichen Struktur» nicht hinzunehmen. Und sein Aussenminister forderte, dass die HTS die Kontrolle über die IS-Gefängnisse übernimmt. Wie sähe dann Amina Alis Zukunft aus?
Die Richterin sagt erst einmal: nichts. Sie fährt sich stumm mit den Spitzen der weinrot lackierten Fingernägel den Hals entlang – so, als würde sie sich die Kehle durchschneiden. Dann meint sie langsam: «Ich wäre dann eine der Ersten, die dran glauben müssten.» Seit sie 2014 beim Schreiben des Antiterrorgesetzes mitgeholfen hat und selbst Dutzenden Kämpfern im Gerichtssaal gegenübersass, wird Ali angefeindet. Zweimal wurde ihr Auto demoliert. Einmal hat der IS ihr ein Video geschickt, in dem ihr mit dem Tod gedroht wird.
Intensive Luftangriffe
Seit dem Fall des Assad-Regimes herrsche in den Gefängnissen grosse Aufregung, erzählt Ali. Viele der IS-Gefangenen würden nur darauf warten, dass die HTS auch sie befreie. «Sie sagen: Erst kam Saidnaya, und als Nächstes sind wir dran.»
Die Inhaftierten begreifen sich als politische Gefangene wie jene im berüchtigten Foltergefängnis bei Damaskus. Nachdem die SDF 2019 mit der Ortschaft Bāġūz die letzte Bastion des IS eingenommen hätten, seien alle Kämpfer, die sie nicht hätten festnehmen können, entweder in die Türkei geflohen – oder nach Idlib: jene Islamistenhochburg, die seit 2017 von Scharaas HTS beherrscht wird. Viele der ehemaligen Kämpfer befinden sich heute in deren Reihen. Das sehe man etwa an den Abzeichen, die sie noch immer auf den Uniformen trügen, sagt Ali. Seit einigen Tagen kursieren im Internet Videos, die Interimsjustizminister Schadi al-Waisi im Jahr 2015 dabei zeigen sollen, wie er zwei Frauen auf einem Platz in Idlib wegen Ehebruch und Prostitution zum Tode verurteilt. Als sie darauf zu sprechen kommt, lacht die Richterin bitter: «Sollte die HTS, wie die Türkei das wünscht, tatsächlich die Kontrolle über die Lager übernehmen, werden diese Männer befreit und in die neue syrische Armee eingegliedert.»
Ob es wirklich so weit kommt, kann derzeit niemand absehen. Die mutmasslichen Ex-IS-Kämpfer sind offiziell der Hauptgrund, warum die USA noch immer 2000 Soldaten in Rojava stationiert haben. Aber werden die Truppen auch bleiben, wenn Donald Trump kommende Woche erneut ins Weisse Haus einzieht? Die Türkei jedenfalls hat seit dem 8. Dezember die Luftangriffe im Nordosten intensiviert. Kein Tag vergeht, ohne dass Kampfflugzeuge und Drohnen Stellungen der SDF bombardieren – aber auch Zivilist:innen. 81 Personen sind dabei nach Angaben des der Selbstverwaltung nahestehenden Rojava Information Center seit Anfang Dezember gestorben.
Und während die Türkei Rojava aus der Luft bombardiert, versucht am Boden die Syrische Nationale Armee (SNA), ein von Ankara ausgebildeter und bewaffneter Zusammenschluss von Milizen, jene Gebiete zu erobern, die von den SDF kontrolliert werden. Mehr als 100 000 Menschen mussten fliehen; viele von ihnen haben in Kamischli Zuflucht gefunden.
Die Eisentüren der Schule unweit des Gerichtsgebäudes stehen an diesem Nachmittag Anfang Januar weit offen. Drinnen herrscht Aufruhr. In einem Gang, an dessen Wände bunte Bilder von Tennisschlägern und Musikinstrumenten gepinselt wurden, steht ein Mann und schimpft, sein Handy sei gestohlen worden. Um ihn herum hat sich eine Traube neugieriger Kinder und Männer gebildet, die ihn zu beschwichtigen versuchen. Ilham Hassan lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. «Hier ist immer irgendwas los», sagt die 54-Jährige. 43 kurdische Familien leben in dem Gebäude. Alle sind Anfang Dezember hierher geflohen.
Früher, in der kurdischen Stadt Afrin, hätten sie ein einfaches, aber dafür friedliches Leben gehabt, sagt Hassan. Jetzt teilt sie sich mit zwölf anderen ein Klassenzimmer, in dem sie tagsüber zum Essen bunte Tücher und nachts zum Schlafen dünne Matratzen auslegen. Die Schule stand leer, seit sie nach einem Erdbeben in der Region Anfang 2022 von der Selbstverwaltung für baufällig erklärt worden war, der Keller ist voll Wasser gelaufen. An manchen Tagen, so erzählen die Bewohner:innen, habe man das Gefühl, das Gebäude würde wackeln. «Aber wo sollen wir sonst hin?», fragt Ilham Hassan.
Bloss eine neue Runde
2018 war sie vor den türkischen Luftangriffen aus Afrin geflohen – genauso wie Richterin Amina Ali. Hassan ging nach Şehba, eine Region nördlich von Aleppo: eine kleine kurdische Insel im Gebiet des syrischen Regimes. Zehntausende Geflüchtete aus Afrin lebten dort in der Hoffnung, bald zurückzukehren. Bis Anfang Dezember: Nachdem die HTS auf dem Weg nach Aleppo zunächst einen Bogen um die Region gemacht hatte, griffen die Milizen der SNA die Gegend an. Scharaas HTS und die SDF verhandelten einen Fluchtkorridor, durch den die Kurd:innen entkommen konnten.
«Für uns waren es Tage der Angst», sagt Hassan. In einem riesigen Tross seien sie geflohen: kilometerlang Autos, Motorräder, Menschen zu Fuss. Begleitet von Milizionären der HTS – und der SNA. Die Geschichten, die die Menschen in der Schule erzählen, sind Geschichten des Horrors. Mahmud Mohammed, ein Musiklehrer mit grauem Dreitagebart und schwarzer Lederjacke, erzählt: «Sie haben uns beschimpft. ‹Ihr Schweine! Ihr PKK-Terroristen!› Und den Frauen haben sie ‹Huren› hinterhergerufen.» Andere seien um den Treck gekreist wie Geier und hätten unter den Männern nach Kämpfern gesucht, meint Hassan. Sie hätten die Taschen kontrolliert und ihre Schultern, ob sich darauf Druckstellen von Gewehrschlaufen fanden. Manche hätten sie mitgenommen. Ihre Stimme stockt. Eine Träne rollt über ihre Wange. Dann spricht sie weiter.
Links und rechts der Strasse hätten Tote gelegen, die meisten der Uniform nach Soldaten des Regimes. «Meine kleine Nichte hat gefragt: ‹Was macht der Mann da?› – Ich habe ihr erklärt, dass er schläft», sagt Hassan. «Einem Mann in unserem Treck haben sie die Tochter weggenommen, ein dreijähriges Mädchen. Sie haben ihm gesagt: ‹Wenn du dich jetzt umdrehst, erschiessen wir dich›», erzählt Mohammed. Sie seien erleichtert gewesen, als sie endlich auf dem Gebiet der Selbstverwaltung angekommen seien.
Ob sie sich gefreut hätten, als wenige Tage später Baschar al-Assad gestürzt wurde? «Freude über was?», fragt Mohammed. Für ihn und die Menschen in der Schule von Kamischli wurde am 8. Dezember lediglich eine neue Runde im syrischen Bürgerkrieg eingeläutet. Noch immer werden die mehrheitlich kurdischen Städte Afrin, Serê Kaniyê und Girê Sipî von türkischen Milizen gehalten. Erst wenn die Türkei abgezogen sei, bestehe eine Chance auf Frieden, sagt Musiklehrer Mohammed. Für ihn steht fest: «Syrien ist erst frei, wenn ich wieder nach Hause zurückkehren kann.»
Dann bittet er seine Tochter, ins Klassenzimmer hinaufzulaufen, um seine Laute holen. Sie ist der einzige Gegenstand, den er bei seiner Flucht aus Şehba mitgenommen hat. Leise spielt Mohammed eine Melodie. Um ihn herum stehen einige der Bewohner:innen der Schule. Zwei Jugendliche filmen. «Sie können unseren Frühling nicht töten» heisst das Lied. Singen will Mohammed den Text erst wieder, wenn er nach Afrin zurückkann.