Peter Bichsel (1935–2025): Warum er ein Held ist
Ich habe die «Kindergeschichten» von Peter Bichsel in meiner Jugend gelesen. Wir besassen damals auch eine Schallplatte, Bichsel sprach seine Texte selbst, unprätentiös und direkt. Die Zeit war noch analog, das Lesen, Schreibversuche und Theateraufführungen waren die Türen, die zum Denken anregten, Gefühle auslösten und neue Welten eröffneten. Und Bichsels Texte waren für mich eine neue Welt.
An meine Verblüffung erinnere ich mich gut. Dass man Wirklichkeit so beschreiben kann, hat mich sofort gepackt und ja, glücklich gemacht. Dass Literatur so klingen kann, war für mich neu, faszinierend. Und ich erinnere mich beim Lesen von Bichsels Texten an das Gefühl von Nähe, als würde der Autor mich in seine Geschichten hineinholen. Es war fast so, als teilte der Autor die beschriebene Wirklichkeit mit mir, als zeigte er mir, dass wir die Wirklichkeit gemeinsam behausen und verändern können, da war der Aufruf zur Teilnahme: «Ändern kann man Dinge nur gemeinsam.» Voraussetzend, dass diese Wirklichkeit wichtig ist und wert, beschrieben (und verändert) zu werden. Diese Wirklichkeitsnähe hat mich umgehauen und – ich war vielleicht fünfzehn – mein Weltbild verändert.
Die Texte sagten mir auch: Es ist vieles möglich, viel mehr, als du glaubst, du darfst auch mal Nein sagen, du darfst auch mal traurig sein oder wütend oder verwirrt oder einfach anders, nicht konform, und es ist gut so.
Wie schaute jemand auf die Welt, der so schreiben kann, frage ich mich heute. Mit welchem Blick ging dieser Schriftsteller durch eine Strasse, durch den Tag, und wie aufmerksam hörte er hin, dass er das Grosse im Kleinen so deutlich sichtbar machen kann, das Wichtige im scheinbar Unwichtigen.
Bichsel hatte den Blick für die Ränder und die Randständigen, für die Traurigen, die Zufriedenen und die Sehnsüchtigen. Weil er mir die Wirklichkeit früh und lesbar nahegebracht hat, ist Peter Bichsel ein literarischer Held für mich.
Miriam Japp (56) ist Schauspielerin. Dieser Text erscheint am kommenden Donnerstag zusammen mit weiteren persönlichen Erinnerungen an Peter Bichsel in der WOZ.