Die langen Schatten

Diesen Artikel hören (4:24)
-15
+15
-15
/
+15

Ich bin keine junge Muslimin wie Rümeysa Öztürk und schreibe kaum über den Nahen Osten. Trotzdem lässt mich das kurze Video von Öztürks Verhaftung Mitte März nicht mehr los: die dunkel gekleideten, maskierten Gestalten, die die Doktorandin am helllichten Tag in Somerville, Massachusetts, kidnappen und in ein Auto ohne Nummernschild stossen. Ich kann die Todesangst der jungen Frau nachvollziehen. Kurz nach meinem Umzug in die USA in den 1990er Jahren musste meine kleine Tochter zusehen, wie ein junger, äusserst nervöser Verkehrspolizist unvermittelt seine Waffe auf mich richtete.

Im Strudel der Unsinnigkeiten und Ungeheuerlichkeiten der neuen US-Regierung habe ich öfters solche Flashbacks. Nicht bloss zu meiner lebensgefährlichen Begegnung mit dem Ordnungshüter. Auch die Wiederinbetriebnahme des rechtsfreien Guantánamo-Knasts weckt ungute Erinnerungen. Ebenso die Abschiebung von vermeintlichen Gangmitgliedern in die Folterknäste von El Salvador. Bereits unter George W. Bush waren Terrorverdächtige verhaftet und ohne ordentliches Gerichtsverfahren in Drittländer überführt worden.

Die dunklen Seiten der US-Geschichte – von der Ausmerzung der indigenen Bevölkerung, der Versklavung Schwarzer Menschen über die Internierung japanischstämmiger Amerikaner:innen im Zweiten Weltkrieg und die McCarthy-Ära bis zum berüchtigten «Krieg gegen den Terror» – werfen nicht nur ideologisch lange Schatten. Diese historischen Epochen haben zum Aufbau eines Systems beigetragen, das die staatliche Repression verwaltet und begünstigt.

Trumps narzisstischer Rachefeldzug kann die polizeistaatliche Infrastruktur nutzen, die die USA in den bewaffneten Konflikten seit dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut haben. Eine Hauptrolle spielt dabei das 2003 gegründete Ministerium für Innere Sicherheit (Department of Homeland Security, DHS). Diese Institution ist das Produkt eines Ausnahmezustandes. Und sie ist wie geschaffen für die Aufrechterhaltung des Ausnahmezustandes: Statt Gewaltenteilung und demokratischer Mitbestimmung herrscht das Notrecht. Ein Notrecht, das die Regierung Trump ausreizt und dreist erweitert.

Notrecht diktierte die Verhaftung der Visainhaberin Rümeysa Öztürk, der bloss vorgeworfen wird, einen israelkritischen Kommentar in der Student:innenzeitung mitverfasst zu haben. Notrecht bemäntelte ihre schikanöse Abschiebung von Boston in den trumpfreundlichen Bundesstaat Louisiana, zweieinhalbtausend Kilometer weit weg von Familie, Freundinnen und Anwälten. Am Montag fand in Vermont, wo der Gefangenentransport im März Zwischenhalt gemacht und Öztürks Rechtsvertreter Klage eingereicht hatten, eine erste Anhörung statt. Ich hoffte, an dieser Stelle berichten zu können, dass Rümeysa gegen Kaution freigelassen wurde. Doch vorläufig ist nicht einmal klar, welche Rechte die Doktorandin noch hat, wenn die US-Regierung mit «nationaler Sicherheit» argumentiert.

Diese Geschichte nimmt kein glückliches Ende: Während Öztürks Fall in Burlington, Vermont, verhandelt wurde, verhafteten vermummte DHS-Agent:innen im nahe gelegenen Colchester einen weiteren Palästinaaktivisten. Mohsen Mahdawi, ein Philosophiestudent an der Columbia University in New York, wurde im eleganten grauen Anzug abgeführt, den der Greencard-Inhaber am Morgen für sein Interview zur Erlangung des US-Bürgerrechts angezogen hatte.

An die­ser Stel­le le­sen Sie im­mer frei­tags «Fuss­no­ten aus dem Trumpo­zän» von Lot­ta Sut­er. Die Mit­be­grün­de­rin so­wie lang­jäh­ri­ge Re­dak­to­rin und Aus­lands­kor­re­spon­den­tin der WOZ lebt seit vie­len Jah­ren im US-Bun­des­staat Ver­mont. Von die­ser länd­li­chen Pe­ri­phe­rie aus schreibt sie bis Mit­te Juli ihre Kolumne, in der sie dem Echo der Po­li­tik in Wa­shing­ton lauscht.