Die ländliche Idylle
Seit 1880 verschenkt die Versicherungsagentur National Life in Montpelier, die grösste Arbeitgeberin von Vermont, an Weihnachten bebilderte Almanache an ihre Kundschaft. Dabei sehen sich die Werbekalender seit Jahrzehnten zum Verwechseln ähnlich: Je nach Jahreszeit gibt es weisse oder grüne Hügelketten, klare Bäche, lauschige Weiher und im Oktober einen flammend roten Ahornbaum. Dazu immer mal wieder eine traditionelle Scheune und ein paar malerische Kühe auf der Weide. Vermont als zeitlos pittoreske heile Welt.
Die Menschen, die diese Kulturlandschaft gestaltet haben, kommen im National-Life-Kalender kaum vor. Schon gar nicht die mehrheitlich indigenen Einwander:innen aus Mexiko, die heute mehr als die Hälfte der Arbeit in der Vermonter Milchwirtschaft erledigen. Sie passen nicht in die ländliche Idylle. Ja, sie haben nicht einmal im harten landwirtschaftlichen Alltag vor Ort einen offiziell anerkannten Platz.
Die Vermonter Bevölkerung und die hiesige Tourismusbranche sind – ähnlich wie ihr Gegenüber in der Schweiz – unglaublich stolz auf die lokale Viehwirtschaft, auf die saftigen Weiden, die guten Käse und rahmigen Joghurts. Doch das wirtschaftliche Überleben der meist kleinen Höfe wird durch solche Verklärung nicht gesichert. Seit dem Zweiten Weltkrieg schrumpfte die Zahl der Milchkuhbetriebe in Vermont von 11 000 auf rund 500. Und die übrig gebliebenen Landwirt:innen stellen Leute aus Mexiko ein, weil sie für die harte Arbeit bei schlechter Bezahlung keine einheimischen Bewerber:innen finden.
Unter den schätzungsweise 1500 ausländischen Beschäftigten in den Vermonter Milchbetrieben gibt es ausserordentlich viele Sans-Papiers, weil die USA keine ganzjährigen Arbeitsbewilligungen in der Landwirtschaft erteilen. Doch Melker:innen werden nicht als Saisonniers oder Saisonnières angestellt, weil Kühe bekanntlich das ganze Jahr über versorgt werden müssen. Die Arbeitgeber:innen wissen um die prekäre Situation, stellen die «systemrelevanten Arbeitskräfte» aber trotzdem ein. Das Hauptrisiko tragen die undokumentierten Lateinamerikaner:innen. Manche von ihnen wohnen und arbeiten Jahre, ja Jahrzehnte am gleichen Ort. Ihre Kinder, oft gebürtige kleine US-Amerikaner:innen, gehen in die Dorfschule – doch die Eltern haben nach wie vor keine gültige Aufenthaltsbewilligung und können deshalb jederzeit ausgeschafft werden.
Am 21. April dieses Jahres nahm die US-Grenzpolizei ICE den Tipp eines «besorgten Bürgers» zum Anlass, eine Razzia in einem grossen Vermonter Milchkuhbetrieb nahe der Grenze zu Kanada durchzuführen. Acht undokumentierte Arbeiter wurden auf dem Hof mit dem irreführenden Namen Pleasant Valley Farm verhaftet und eingesperrt. Drei von ihnen sind bereits nach Mexiko ausgeschafft worden, wie mittlerweile üblich ohne Anhörung. Viele Sans-Papiers trauen sich jetzt nicht mehr aus dem Haus.
Am 1. Mai, der in den USA nicht gross gefeiert wird, besuchte ich dieses Jahr die Aktivist:innen von Migrant Justice, die die Landarbeiter:innen in Vermont organisieren und sich für ihre Rechte einsetzen. Sie demonstrierten vor dem lokalen Geschäft der Supermarktkette Hannaford für Fairtrade im Milchgeschäft. Statt «Hoch die internationale Solidarität» hiess die Kampfparole diesmal zwar ländlich, aber nicht idyllisch: «Milk with dignity», Milch mit Respekt.
An dieser Stelle lesen Sie immer freitags «Fussnoten aus dem Trumpozän» von Lotta Suter. Die Mitbegründerin sowie langjährige Redaktorin und Auslandskorrespondentin der WOZ lebt seit vielen Jahren im US-Bundesstaat Vermont. Von dieser ländlichen Peripherie aus schreibt sie bis Mitte Juli ihre Kolumne, in der sie dem Echo der Politik in Washington lauscht.