Terézia Mora: «Jasagen, Fotos. Später Hotdog.»

In ihrem ersten Roman «Alle Tage» erzählt die deutsch-ungarische Schriftstellerin präzise und ohne falsche Übertreibungen von der Orientierungs- und Lieblosigkeit.

Vor dreizehn Jahren ist die 1971 in Ungarn geborene Terézia Mora nach Deutschland gekommen. Ihr erstes Buch, der Erzählband «Seltsame Materie», erschien 1999: Für eine der Erzählungen hatte sie eine Auszeichnung am Open Mike in Berlin erhalten, für eine zweite den Ingeborg-Bachmann-Preis. Seither hat sie mehrere Bücher aus dem Ungarischen übersetzt, unter anderem Peter Esterhazys «Harmonia Coelestis».

Was aus einer Bachmann-Preisträgerin wird, das ist, wenn man zur Buchbranche gehört, eine bedeutungsvolle Frage. In Terézia Moras Fall war es mehr als Neugierde, es war tatsächlich Erwartung. Sicher wird viel Lesenswertes und noch mehr Gekonntes geschrieben; Bücher, die einen glücklich machen, sind dennoch sehr selten. Bei Mora konnte man sicher sein, dass sie sich weder um das so genannte «Neue Erzählen» noch um die Leipziger Schule oder gar die «Neue Kälte» (so die Parole beim letzten Open-Mike-Wettbewerb in Berlin) scheren würde. Und man konnte ihr jedenfalls Hartnäckigkeit, Eigensinn, Beharrungsvermögen unterstellen. Ob das mit ihrer Herkunft zu tun hat oder nicht, sei dahingestellt. Tatsächlich kann man in Deutschland mit grossem Vergnügen zur Kenntnis nehmen, wie zunehmend AutorInnen nichtdeutscher Herkunft veröffentlichen und die Ordentlichkeiten nationaler Kultur- und Sprachpolitik durchkreuzen.

Jetzt ist bei Luchterhand Terézia Moras zweites Buch, ihr erster – und dicker – Roman «Alle Tage» erschienen. Sein Held, Abel Nema, auch Abelard genannt, ein Glückspilz oder Unglücksrabe im schwarzen Trench, auf der Suche nach seinem Vater oder auf der Suche nach seiner Kinder- und Jugendliebe Ilia, hat es aus irgendeinem Osten in irgendeinen Westen geweht. Er ist einer, der weder reist noch ankommt, der zehn Sprachen lernt, aber kaum spricht. Nema, der Stumme oder Barbar, ist kein Irrfahrer, doch verirrt er sich, in der Stadt im Westen, in der er lebt, studiert, eine Scheinehe eingeht mit Mercedes, die ihn liebt, und deren Sohn Omar er unterrichtet. Er läuft durch die Stadt, orientiert sich bloss so weit, dass er sein jeweiliges Zimmer wiederfindet. Ein Park dient als Fixpunkt wie die Kneipe namens Klapsmühle, ein Sadomasoschuppen, ein Bordell, ein freier Ort, dessen Hüter Thanos heisst: gerade eine Silbe vom Tod entfernt.

Nema ist orientierungslos, selbst im Vertrauten, so sehr, dass es Vertrautes nicht gibt. In seinem Glück, in seinem Unglück bleibt deswegen alles gleich fern – die zerstörerische Konsequenz ist, dass er seine eigenste Fähigkeit, zehn Sprachen zu sprechen, verliert. Er verliert sie wegen der Liebe, verliert sie, weil er Kostja, einen Roma-Jungen, zu sich genommen hat und umarmt. Weil zwischen den Aussenseitern etwas Zärtliches übersprang, eine Spur Orientierung im Verlorensein. Kostjas Bande zerschlägt Nema erst die Wohnung, als sie ihn nach Jahren wiedertreffen, quälen sie ihn fast zu Tode, hängen ihn an den Füssen auf einem Spielplatz auf. Nema überlebt, aber er verliert seine Sprachen, und es ist eine zehnfache Sprachlosigkeit, die ihn schlägt und befreit, zu dem einen Satz: Das ist gut.

Die Gedächtniskunst lehrt, dass dras­tische Bilder sich dem Gedächtnis besonders gut einprägen. Man könnte meinen, Terézia Mora habe das bei der Konzeption der Figuren beherzigt. Zweifellos prägt sich ein, dass Omar, Mercedes Sohn, Abels Stiefsohn, einäugig ist und auf die Frage nach seinem verlorenen Auge antwortet: «Ich habe es hingegeben für Weisheit.» Dass Kinga, Abels selbsternannte Patin, verstrickt in endlose Schlägereien mit ihrem Freund Janda lebt: «Ihr Mund stank nach Tabak und schlechten Zähnen. Auf ihrem Kinn wuchs eine haarige Warze. Insgesamt sieht sie immer mehr aus wie eine Hexe.» Dass Nemas Nachbar, ein Chaosforscher, gerade von einer Himmelfahrt zurückgekehrt ist. Allerdings nutzt dauernde Drastik die Aufmerksamkeit ab, und Abel Nema mit den violetten Augen bleibt fern, weder Bild noch blosse Kunstfigur, aber kein Mensch, an dem man Anteil nähme.

In völliger Ort- und Lieblosigkeit gibt es keine Sprache, könnte man die These dieses Romans formulieren, und gegen diese Düsternis setzt der Roman sich selbst. Seine Sprache ist nicht übertrieben, auch nicht bloss gekonnt. In der Literatur kann einen Gekonntheit elend machen. Das Auffälligste an Moras Sprache, das, was diesen Roman so wunderbar macht, ist ihr Freimut. Unge­küns­telt, reich, vielseitig ist seine Sprache, mit dem Trost einer Vielfalt, die aus sich selbst heraus immer wieder ins Komische, Merkwürdige kippt. Sie macht grosse, präzise Gesten, hält inne, umkreist sich selbst, aber nicht zu lange. Lapidar und präzise fasst diese Sprache zusammen, schneidet, wechselt die Perspektive, treibt Handlung voran. «Jasagen, Fotos. Anschliessend auseinander zu gehen war schwierig, also blieben sie zusammen, spazierten durch den Park, sassen auf Bänken, assen eine Waffel, später Hotdogs, schliesslich, leicht nach vorne gebeugt: Eis. Hier konnte auch Mercedes wieder lachen. Unser Hochzeitessen. Irgendwoher – Kofferradio – schepperte mit dem Wind Rock and Roll.»

Probates Mittel gegen Orientierungslosigkeit ist Sprache, die grosszügig genug ist, dem Denken und Empfinden gegen die Enge Raum zu verschaffen. Das ist es, was Moras Buch tut.

Terézia Mora: Alle Tage. Luchter­hand Literaturverlag. München 2004. 429 Seiten. Fr. 39.50