Literatur: Und dann nimmt ihr Unglück seinen Lauf

Nr. 2 –

Im Bann toxischer Männlichkeit: Terézia Moras neuer Roman ist das Zeugnis einer Unterwerfung. Doch ihre virtuose Erzählkunst kennt neben den harten auch manch zarte Momente.

Portraitfoto von Terézia Mora
Mit stupender Kunstfertigkeit und packender Sprache: Terézia Mora. Foto: Basso Cannarsa, Laif

«Nachdem sie meine Mutter mit Blaulicht weggebracht hatten, ging ich in den Hof, wo das Fahrrad stand, und schon wieder hatte es einen Platten. Ihr miesen Arschlöcher.»

Fulminant und fesselnd eröffnet Terézia Mora ihren Roman «Muna oder Die Hälfte des Lebens», in dem sie erstmals eine weibliche Protagonistin in Ich-Form erzählen lässt. Es ist März 1989 in einer fiktiven ostdeutschen Stadt, und Muna ist gerade achtzehn geworden (gleich alt wie die Autorin damals), als ihre Mutter, eine alkoholkranke Schauspielerin, einen Suizidversuch unternimmt. Die alternde Aktrice ertränkt das Elend schwindender Rollenangebote im Suff. Munas geliebter Vater ist seit zehn Jahren tot – einem Lungenkrebs erlegen. Die Mutter sieht ihre Tochter als «üppige Blondine» und lehrt sie: «Die Welt ist scheisse, die Leute sind Schweine, dein Vater hat uns beide vor ihnen beschützt, jetzt muss ich das machen. […] Dass sie dich ficken, lässt sich nicht vermeiden. Achte nur immer darauf, dass du sie ebenso fickst wie sie.»

Damit ist der kraftvoll-schnoddrige Tonfall gesetzt. Muna ist da bereits seit sechs Monaten schwer verliebt in den Fotografen und Französischlehrer Magnus Otto, «den schönsten Mann, den ich je im Leben sehen würde». Kennengelernt hat sie den ebenso unnahbaren wie ungehobelten Beau in der Redaktion des «Magazins», der städtischen Tageszeitung, wo sie in den Sommerferien hospitierte. Sie stellt ihm hartnäckig nach, bekommt ihn irgendwann für eine Nacht, doch gleich danach verschwindet Magnus kurz vor dem Mauerfall in den Westen. Muna begegnet ihm erst sieben Jahre später wieder – und dann nimmt ihr Unglück seinen Lauf.

Wort für Wort, ohne Pathos

Seit ihren ersten Büchern, «Seltsame Materie» (1999) und «Alle Tage» (2004), zählt Terézia Mora zu den aufwühlendsten Stimmen der aktuellen Literatur in deutscher Sprache. 2013 erhielt sie den Deutschen Buchpreis für ihren Roman «Das Ungeheuer», 2018 wurde sie mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet, «Muna» stand letztes Jahr auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Mit verstörender Direktheit und grandioser Sprachkraft verfolgt Mora stets die Wege und Irrwege ihrer Figuren, hier Munas Entwicklung von der Vorwendezeit bis Ende der nuller Jahre.

«Ich bin sozusagen Kunde für Entwicklungsromane», sagte Mora in einem Interview, «ich mag es, wenn Leute und Figuren und Werke sich entwickeln, wenn am Ende was anderes da ist als am Anfang.» Frech und fabelhaft genau entwirft sie Szenerien und Figuren, wobei sie nie episch ausmalt, sondern träf skizziert. Sie sucht, wie sie sagt, eine Erzählweise, «die so wenig heimatlich wie möglich ist».

«Sag es einfach Wort für Wort. Leg kein Pathos hinein», war schon in ihrem Erstling, dem Erzählband «Seltsame Materie», zu lesen, und daran hält sich Terézia Mora bis heute. Dazu gehört auch, dass es keine Anführungszeichen gibt, aber Klammern, Streichungen, Perspektivenwechsel, innere und äussere Stimmen, was die Lesenden sogartig mitten ins geschilderte Geschehen hineinzieht. Mit vielen, knapp porträtierten Figuren entfaltet «Muna» ein farbiges Panorama der Nachwendejahre – und zwar «die weibliche Variante», wie es auf dem Titelblatt unter der Gattungsbezeichnung «Roman» heisst.

Muna trauert dem entschwundenen Magnus zwar unentwegt nach, schreibt ihm Briefe, die er nie beantwortet, aber sie nimmt ihr Leben auch energisch in die Hand: Sie studiert Literatur in Berlin, später in London. Sie begegnet übergriffigen Dozenten ebenso wie einem Paar, das sie als Kinderbetreuerin ausbeutet. In Wien arbeitet sie für feministische Projekte und beginnt eine Dissertation zum Thema «Tagebuch und Autobiografie – Weiblichkeitskonstruktion und Erinnerungskultur», was Moras eigenes Schreibprojekt spiegelt.

Betörend und verstörend

Bei einem Musicalbesuch mit Freundinnen in Berlin läuft Muna dann Magnus über den Weg. Und damit beginnt, von ihr selbst und den Lesenden fast ungläubig registriert, ihre jahrelange Unterwerfung unter diesen gefühlskalten, beinahe asozialen Mann, der mit zunehmend ungehemmter Grausamkeit psychische und physische Gewalt ausübt. Mit stupender Kunstfertigkeit und in packender Sprache zeigt Terézia Mora, wie toxische Männlichkeit aussieht und welche Muster dabei spielen. Muna, inzwischen promoviert, zahlt beinahe mit dem Leben, bis sie das Scheusal loslassen kann. Sie beginnt selber, literarisch zu schreiben – in der «Hälfte des Lebens» angelangt, kinderlos und an Krebs erkrankt.

«Muna oder Die Hälfte des Lebens» ist betörend und verstörend, ein beklemmender Roman, der einen durchschüttelt. Doch neben den harten kennt Terézia Moras Erzählkunst auch manch zarte Momente. Die Genialität dieser Prosa liegt in ihrem vielfältigen Blick. Auch mit diesem Buch ist Mora gelungen, was sie gezielt sucht: Sätze, «in denen die Erzählung quasi einen Dialog mit sich selbst führt», wie Mora in ihrer Frankfurter Poetikvorlesung sagte – und die in der Lage sind, «das, was unsere Wahrnehmung heute dominiert, nämlich die Multiperspektivität, abzubilden».

Terézia Mora liest am Donnerstag, 18. Januar 2024, um 19 Uhr im Literaturhaus Basel.

Buchcover von «Muna oder Die Hälfte des Lebens»
Terézia Mora: «Muna oder Die Hälfte des Lebens». Roman. Luchterhand Verlag. München 2023. 440 Seiten. 37 Franken.