Wef-Nachlese: Schuldhafte Polizei
37 Betroffene klagen gegen die Polizei, die sie nach der Anti-Wef-Demonstration in Landquart einkesselte.
«Wir nehmen das Vorgehen der Polizei nicht einfach so hin, auch wenn die Erfolgsaussichten unserer Anzeige gering sind», sagt eine der 37 KlägerInnen, die letzten Mittwoch über ihre Anzeige gegen «unbekannte politische und operative Verantwortliche» des Polizeieinsatzes vom 24. Januar 2004 in Landquart informierte. Alle 37 Anzeigenden hatten nach der friedlichen Anti-Wef-Demo in Chur den Zug Richtung Zürich bestiegen und waren auf dem Heimweg.
Im Bahnhof Landquart hatte aber die Polizei Waggon für Waggon gewaltsam geräumt und die DemonstrantInnen unter Einsatz von Tränengas, Schlagstöcken, Schockgranaten («Irritationswurfkörpern») und Wasserwerfern auf dem Bahnhofplatz zusammengetrieben.
Polizei zurechnungsfähig
«Man hat uns nie erklärt, dass wir auf den Platz gehen sollten», sagt eine der Betroffenen. 1082 Personen mussten stundenlang in eisiger Kälte warten, bis die Polizei sie in Fünfergruppen aus dem umstellten Platz abführte und in der Tiefgarage der gegenüberliegenden Coop-Filiale fichierte. Der Schock über diese Ereignisse war einigen noch letzten Mittwoch anzumerken: Sie sprachen von «Panikstimmung» und «ziemlicher Hysterie», von «Willkür» und «entwürdigendem» Verhalten der Polizei und von der Angst um FreundInnen, die man im Gewühl verloren hatte.
«Der einzig erkennbare Zweck des ganzen Polizeieinsatzes war es, GegnerInnen des Wef zu registrieren und sie vor einer öffentlichen Kundgabe ihrer Ablehnung abzuschrecken», heisst es in der Anzeige. Die weiteren Vorwürfe lesen sich wie ein kurzer Gang durchs Strafgesetzbuch: Freiheitsberaubung, Beschimpfung, Körperverletzung, Tätlichkeiten, Gefährdung durch giftige Gase, Störung von Betrieben, die der Allgemeinheit dienen. Die Polizei habe diese und andere Straftatbestände nicht nur objektiv erfüllt: Da der Grosseinsatz weder dazu getaugt habe, Sachbeschädigungen am vorderen Teil des Zuges strafrechtlich zu verfolgen noch Zwischenfälle in Landquart selbst zu verhindern, könnten die «unbekannten Verantwortlichen» auch keine subjektiven Rechtfertigungsgründe in Anspruch nehmen. «Die Polizei hat nicht nur rechtswidrig, sondern zudem schuldhaft gehandelt. Denn: Unzurechnungsfähig waren die Beamten ja nicht», sagt der Berner Rechtsanwalt Daniele Jenni, der die 37 Betroffenen vertritt.
Aus dem legitimen Einsatz staatlicher Gewalt wurden so simple Straftaten, die nun die neunzehn Frauen und achtzehn Männer bei der Bündner Staatsanwaltschaft anzeigten. Deren Pressesprecher Albert Fausch konnte bisher nur den Eingang der Anzeige bestätigen. Man werde entsprechende Verfahren eröffnen. Wie lange die Untersuchung dauert, konnte Fausch nicht sagen. Rechtsanwalt Daniele Jenni rechnet mit mehreren Monaten, vielleicht sogar einem Jahr. Erst nach einem Strafurteil seien die zivilrechtlichen Klagen auf Genugtuung und Schadenersatz zu entscheiden. Wenn aber bereits der Untersuchungsrichter das Verfahren einstelle, müsse man dagegen vor dem Kantonsgericht klagen.
Für Klagen gegen die Polizei braucht es einen langen Atem. So sind die gerichtlichen Auseinandersetzungen um die Polizeieinsätze am World Economic Forum (Wef) 2001 noch immer nicht abgeschlossen, und auch ihr Gegenstand ist nach wie vor aktuell: Damals wie heute gehört es zur Strategie der Bündner Polizei, nur jene Personen nach Davos zu lassen, die ihr und dem Wef genehm sind. AusländerInnen werden sofort – wenn auch nur temporär – aus der Schweiz weggewiesen. Fünf deutsche JournalistInnen erstatteten damals Strafanzeige wegen Amtsmissbrauch – unter anderem gegen den verantwortlichen Bündner Kripochef Martin Accola. PolizeibeamtInnen hatten die fünf an einer Kontrollstelle vor Davos angehalten, gegen ihren Willen fotografiert und ihnen zur Auflage gemacht, die Schweiz bis Mitternacht zu verlassen. Der Bündner Untersuchungsrichter hatte das Verfahren eingestellt. «Politisch wäre es wichtig gewesen, diesen Entscheid anzufechten», sagt der Zürcher Rechtsanwalt Marcel Bosonnet. «Die Verfahrenskosten waren für die Betroffenen aber so hoch, dass sie aufgaben.»
Langer Instanzenweg
Für zwei Schweizer Journalisten, die ebenfalls an den Vorkontrollen gescheitert waren und deshalb nicht über das Public Eye on Davos berichten konnten, beschritt Bosonnet den verwaltungsrechtlichen Beschwerdeweg. Wo kann man sich über Massnahmen der Bündner Polizei beschweren? «Eine gute Frage», sagt Bosonnet, «die habe ich den Polizisten damals auch gestellt.» Was folgte, war ein bisher erfolgloses Verfahren quer durch die Instanzen bis hinauf zum Bundesgericht, bei dem die Beschwerden zurzeit hängig sind. Im Juli 2001 lehnte zunächst das Bündner Polizeidepartement die Beschwerden ab.
Dagegen klagten Bosonnet und seine Mandanten vor dem Bündner Verwaltungsgericht, das die Beschwerden im Juni 2002 an die Kantonsregierung weiterwies. Diese erliess im April 2003 eine ablehnende Verfügung, die sie formal begründete; zudem, so liess die Regierung verlauten, sei die Wegweisung an der Kontrollstelle vor Davos keine Grundrechtsverletzung gewesen. Im November 2003 hatte wiederum das Verwaltungsgericht über die Sache zu entscheiden. Es hielt sich für nicht zuständig und trat auf den Rekurs nicht ein.
Dass Bosonnet dieses Urteil vor dem Bundesgericht und gegebenenfalls auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg anfechten kann, ist nur möglich, weil die Gewerkschaft Comedia die hohen Prozesskautionen für die beiden Journalisten übernimmt. Den BundesrichterInnen versucht der Anwalt nun klar zu machen, dass die Schweiz nur dann das Prädikat «Rechtsstaat» für sich in Anspruch nehmen kann, wenn staatliches – in diesem Fall polizeiliches – Handeln und die daraus resultierenden Grundrechtsverletzungen gerichtlich überprüfbar sind.
Uneinsichtige Datensammler
«An das Polizeikommando, Kantonspolizei Graubünden: Hiermit verlange ich Einsicht in alle über mich vorhandenen Personen- und Bilddaten, die im Zusammenhang mit Kundgebungen und Aktionen gegen das World Economic Forum (Wef) 2004 angelegt worden sind.» Nach dem Landquarter Polizeikessel (vgl. Haupttext), bei dem die Polizei über tausend Personen fichiert hatte, stellte das «Archiv Schnüffelstaat Schweiz» den Betroffenen ein Muster-Einsichtsgesuch mit dieser Formulierung zur Verfügung. «Die Einsicht», so heisst es in dem Musterbrief weiter, «sei mir vor jeder weiteren Verwendung oder Weitergabe an Dritte und vor einer allfälligen Löschung zu gewähren. (...) Falls Sie meinem Begehren nicht nachkommen wollen, verlange ich eine entsprechende Mitteilung mit Begründung und Rechtsmittelbelehrung.» Eine klare Forderung.
Die Antwort darauf kommt dann jedoch nicht vom Polizeikommando, sondern vom Wef-Ausschuss der Bündner Regierung: «Zurzeit werden sämtliche Einsätze der Sicherheitskräfte während des Wef 2004 umfassend analysiert und ausgewertet. Sobald diese Auswertungsergebnisse vorliegen, werden wir Ihre Fragen beantworten können.» Das Einsichtsgesuch wird darin mit keinem Wort erwähnt. Eine solche politisch-strategische Auswertung hatte Ausschuss-Sekretär Walter Schlegel bereits Anfang Februar angekündigt.
Damals hiess es auch, die Daten, die man zumindest derzeit nicht offen legen will, seien in einer Spezialdatei erfasst. Sofern sie nicht für ein Strafverfahren gebraucht würden, werde man sie bis zum 30. Juni löschen. Dass sich aus dem Landquarter Datenfriedhof viel strafrechtlich Relevantes destillieren lässt, ist kaum zu erwarten. Bisher hat die Bündner Staatsanwaltschaft erst zwei Verfahren gegen DemonstrantInnen eröffnet, eines davon hat sie an einen anderen Kanton weitergegeben.