Wef-Demo: Beisshemmung

Nr. 39 –

Das Untersuchungsrichteramt Chur will das Verfahren gegen die Polizei in Sachen Landquarter Kessel einstellen. Die Betroffenen erheben Beschwerde.

Wie viel polizeiliche Gewalt hat hinzunehmen, wer die Grundrechte auf Bewegungs- und Versammlungsfreiheit wahrnehmen möchte? Die Antwort des Churer Untersuchungsrichters Albert Largiadèr auf diese Frage findet sich in seiner Verfügung vom 1. September 2005: «Man muss von Personen, die zu einem kritischen Zeitpunkt an Demonstrationen teilnehmen, bei welchen mit gewaltsamen Störaktionen militanter Kreise gerechnet werden muss, ein erhöhtes Mass an Verständnis für Massnahmen erwarten dürfen, welche von den Organen, denen der Schutz vor solchen Aktionen übertragen ist, in Ausführung ihres Auftrages getroffen werden.»

Der «kritische Zeitpunkt» waren die Tage des Wef im Januar 2004. Die Demonstration in Chur am 24. Januar 2004 war friedlich und ohne «Störaktionen» zu Ende gegangen, die «Personen» befanden sich auf der Rückreise. Mit den «Massnahmen» der «Organe» ist der Landquarter Kessel gemeint: 1082 Personen hatte die Polizei damals unter Einsatz von Wasserwerfern, Tränengas, Schlagstöcken und Knallpetarden aus dem Zug geholt, im Bahnhof Landquart zusammengetrieben und bis zu sieben Stunden bei eisiger Kälte auf dem Bahnhofsvorplatz warten lassen, um dann in einer gross angelegten Fichieraktion ihre Personalien aufzunehmen.

35 Betroffene hatten zusammen mit dem Berner Rechtsanwalt Daniele Jenni gegen diese Behandlung Klage erhoben. Sie haben weder Verständnis für die Massnahmen der Polizei noch dafür, dass Untersuchungsrichter Largiadèr das Verfahren einstellen will, bevor es richtig angefangen hat. Jenni hat im Auftrag seiner MandantInnen Rekurs bei der Beschwerdekammer des Bündner Kantonsgerichts eingelegt.

Dass Untersuchungsbehörden eine Beisshemmung haben, wenn sie gegen die Polizei ermitteln sollen, ist nichts Neues. Untersuchungsrichter Largiadèr folgt denn in seiner Einstellungsverfügung umstandslos den Darstellungen der Polizei und des Wef-Ausschusses der Bündner Kantonsregierung. Demnach habe sich unmittelbar nach dem Eintreffen des Zuges in Landquart eine Gruppe von Leuten auf die Gleise gesetzt, während andere begonnen hätten, Lokomotive und Wagen zu besprayen. «Aufgrund der Zerstörungen am Zug und an Bahnhofseinrichtungen war die Polizei verpflichtet, Abklärungen hinsichtlich der Täterschaft und die damit verbundenen Personenkontrollen vorzunehmen.» Die Einkesselung hält der Untersuchungsrichter daher für recht- und verhältnismässig, auch wenn «in Einzelfällen» die Kommunikation zwischen der Polizei und den Betroffenen «nicht optimal» gewesen sei. Von übermässiger Gewalt, zum Beispiel vom Tränengaseinsatz im Innern des Zuges, will er nichts wissen.

Ignorierte Widersprüche

Diese reichlich einfach gestrickte Argumentation akzeptiert Daniele Jenni nicht: Denn zum einen sei der Polizeikessel zur Identifikation der SprayerInnen «überaus ungeeignet» gewesen, «da alle Zugreisenden vermischt wurden und ihre fotografische und namentliche Erfassung nicht koordiniert waren». Tatsächlich konnten die Bündner StrafverfolgerInnen in keinem einzigen Falle Anklage wegen dieser Sachbeschädigungen erheben. Zum andern zeigt Jenni detailliert, dass der Untersuchungsrichter seine Präsentation des Polizeikessels als Reaktion auf Sachbeschädigungen nur aufrechterhalten kann, indem er die Widersprüche in den Ablaufschilderungen von Polizei und SBB ignoriert – wie auch die zahlreichen Hinweise darauf, dass die Polizei diesen im Voraus geplant hatte: die Verlangsamung des Zuges auf der Fahrt bis Landquart, die vorausschauende Freihaltung des Bahnhofsplatzes, die erwartete Überlastung des Mobiltelefon-Netzes oder die Existenz eines «Plans B», der sich dann erübrigte: eines Polizeikessels im Güterbahnhof von Langenthal. Bleibt abzuwarten, ob sich die Beschwerdekammer des Bündner Kantonsgerichts mit Largiadèrs Ergebnis zufrieden gibt.