Wem gehört die Geschichte?

Meine fünfjährige Tochter, die die Geschehnisse in Belgrad sorgfältig verfolgt, fragte mich, ob es Slobodan Milosevic bereits gab, als ich noch ein Kind war. Und auch wenn ich mich noch genau erinnern kann, dass wir, als Tito-Pioniere gekleidet, Staatsfeste in Belgrad gefeiert haben, stutzte ich und musste eine lange Pause machen, bevor ich ihr antworten konnte. Nach 13 Jahre Milosevic-Herrschaft erschien mir plötzlich unmöglich, dass wir je ohne ihn existiert haben.
Dass es Milosevic (politisch) nicht mehr gibt, bestätigt mir jetzt am deutlichsten die staatliche Presse. Sie hat bis Donnerstag letzter Woche nur über den geliebten Präsidenten geschrieben, jetzt berichtet sie nur über den neuen Staatschef. In «Politika», bis vor einer Woche Hausblatt von Milosevic, wird der Ex-Präsident nur noch erwähnt, wenn sein Nachfolger Vojislav Kostunica etwas zu ihm zu sagen hat.
Meine zwanzigjährige Nichte war in der Nacht zum Samstag, nachdem der Despot das Feld geräumt hatte, nicht ganz glücklich. Mit einem weinenden Auge schielte sie Richtung Terazije. So heisst das Herzstück Belgrads. In ihrer Erinnerung blieb, dass wir Älteren in den langen Jahren der Autokratie, unsere Hoffnung auf bessere Zeiten oft mit folgenden Worten ausgedrückt haben: «Eines Tages werden Milosevic und die anderen an den Laternen am Terazije-Platz hängen.»
Ernsthaft habe ich nie an diese Möglichkeit geglaubt. Der «grosse Conducator» Rumäniens, Nicolaie Ceausescu war ja doch ein anderes Kaliber. Trotz aller Grausamkeiten hat Milosevic in seiner «Diktatur light» immer kleine Freiheiten gewährt. Trotz Unterdrückung und Verhaftungen hat es bis zuletzt einige freie Medien gegeben; einige Menschenrechtsorganisationen haben, trotz Lebensgefahren, ihre Existenz verteidigen können. Hatte Milosevic das zugelassen, aus Angst eines Tages wie der rumänische Kollege enden zu können, oder war er einfach zu sehr mit der eigenen Bereicherung beschäftigt?
Ich stelle mir in den letzten Tagen oft das Bild vor: Milosevic und seine Gattin Mirjana Markovic mit steinernen Gesichtern vor den Gewehren eines Exekutionskommandos. Hätten wir – ich, meine Nichte, die neue Führung in Belgrad – es dann leichter?
Meine Nichte und ihre FreundInnen vielleicht schon. Sie sind die erste Generation der Unschuldigen. Sie haben massenweise an den Wahlen teilgenommen, sie haben ihre Eltern und Grosseltern überzeugt, dass sie diesmal die Opposition und nur die Opposition wählen müssen, sie haben in den Tagen danach die Strassen von Belgrad und vieler anderer Städte in Aufruhr versetzt. Diese junge Menschen haben Milosevic gestürzt, und nicht, wie manche westliche Zeitung behauptet, diejenige Serbinnen und Serben, die jetzt müde und enttäuscht sind, aber nicht weil Milosevic vier Kriege geführt, sondern weil er vier Kriege verloren hat.
Für mich und meine Generation wäre ein Ceausescu-Epilog nicht gut gewesen. Wir müssen Milosevic, seine Frau und ihre Helfer auf der Anklagebank sehen, damit 13 Jahre unseres Lebens nicht endgültig auf dem Müll enden. In Den Haag oder in Belgrad – es ist mir ziemlich egal. Ich will nur, dass damit ein langer, schwieriger, aber lehrreicher Prozess der Konfrontation mit der eigenen kleinen Verantwortung beginnt – für die BürgerInnen Serbiens, für viele kleine TäterInnen. Ich will nicht, dass der Umsturz noch zum moralischen Sieg derjenigen wird, die im letzten Jahr das Völkerrecht begruben, um Jugoslawien bombardieren zu können, und die sich jetzt auf das gleiche Recht berufen, wenn sie die Auslieferung Milosevics an Den Haag fordern.
Im Westen, sehe ich mit grosser Verwunderung, ist man bemüht, den Sturz Milosevics auch als eigenen Erfolg zu feiern – nach einer jahrelangen verfehlten Balkan-Politik. Mit dem Finger auf Belgrader DemonstrantInnen zeigend, erklärt der deutsche Aussenminister Joschka Fischer: «Sie haben gefragt, wo ist das Grüne in der deutschen Aussenpolitik. Das ist grüne Aussenpolitik.» Bei allem Respekt für «das Grüne in der deutschen Aussenpolitik» bin ich der tiefen Überzeugung, die tapferen Demonstranten aus Cacak hätten ihre Bulldozer auch dann nach Belgrad gebracht, wenn der Weg nicht über den westlichen Qualitätsasphalt «for democracy» geführt hätte. Die kleine Revolution in Serbien verwies die westlichen Mächte, und Russland erst recht, auf die Zuschauerränge.
Hatte man das nicht immer gefordert und gewollt: dass die Völker des Balkans ihr Schicksal endlich in die eigenen Hände nehmen?