Wie sind die Regeln?: AfghanInnen äussern sich zum Krieg

Was geschah genau in Kala-i Dschangi, jener Festung (18. oder 19. Jahrhundert?) zehn Kilometer westlich von Masar-i Scharif, am vergangenen Wochenende? Obwohl sich alles unter den Augen von Kriegsberichterstattern aus der ganzen Welt abspielte, werden wir wohl nie erfahren, wie viele hundert ausländische Kämpfer (Araber? Tschetschenen? Pakistanis?) im Dienste der Taliban dort niedergemacht wurden, bis am Dienstagabend endlich der Tod der letzten zwei «Meuterer» gemeldet wurde. Wie konnte die Situation so ausser Kontrolle geraten, dass der CIA-Agent vor Ort (Dave?) mit einem Notruf jene US-Bomber auf den Plan rief, die auch britische und US-Soldaten beschossen? Trotz allen widersprüchlichen Meldungen über den angeblich bewaffneten Aufstand der Gefangenen ist klar, dass in Kala-i Dschangi ein Massaker stattgefunden hat - und nicht das erste in diesem Krieg: Zwei Wochen zuvor hat die Nordallianz anlässlich der «Befreiung» von Masar-i Scharif nach eigenen Angaben tausend in einer Schule eingeschlossene Pakistaner und Araber getötet. Die Taliban ihrerseits richteten in der gleichen Stadt bei ihrer eigenen, späten Machtübernahme im August 1998 bereits ein Massaker mit tausenden von Toten an. Aus Kundus kommen Meldungen von blutigen Racheakten an wehrlosen, verwundeten Feinden auf öffentlichen Plätzen der Stadt.

Es bleibt der Eindruck, in jenem traurigen Land werde ein Krieg geführt wie im dunkelsten Mittelalter, Rechnungen aus zwanzig und mehr Kriegsjahren zwischen blutrünstigen Warlords beglichen, die keine Gnade, sondern nur Rache kennen und die sich um alle völkerrechtlichen Schranken, die dem Krieg mit internationalen Abkommen gesetzt wurden, einen Deut kümmern. So stimmt unser Bild von den ruchlosen afghanischen Kriegsgurgeln. Dass der Angreifer in diesem Krieg die Genfer Konventionen schon längst über Bord geworfen hat, nehmen wir nur am Rand zur Kenntnis: Die Bombardierung von Rotkreuzanlagen in Kabul buchten wir unter «Kollateralschäden» ab, an die wir uns in den letzten hochtechnologisierten Kriegszügen zu gewöhnen hatten. Die Äusserung von US-Verteidigungminister Donald Rumsfeld schon zum Zeitpunkt, als vor zwei Wochen die ersten hundert GIs auf afghanischem Boden landeten, sie seien «zum Töten» hingeschickt worden, wird mit dessen Chicagoer Herkunft erklärt - als handelte sich das Ganze um eine Mafia-Abrechnung zu Prohibitionszeiten. «In Zeiten des Krieges scheint ein Rechtsnihilismus um sich zu greifen», warnen 130 deutsche Juristen und Rechtsprofessoren. «Wenn US-Verteidigungsminister offen erklären, es sei das Beste, dass die auf Seite der Taliban kämpfenden Soldaten umkommen, scheint jeder Bezug auf Genfer Konventionen und Völkerrecht obsolet», schliessen sie ihren verzweifelten Aufruf resigniert - und fanden kaum Gehör.

Kriegsführung ohne Schranken hüben und drüben? Die afghanische Bevölkerung weiss es, unseren Vorurteilen zum Trotz, besser. Eine Mehrheit findet, auch im Krieg sei nicht alles erlaubt, und nennt eine ganze Reihe von Dingen, die Kämpfer nicht tun dürfen: Raub und Diebstahl, Töten generell, Töten von Zivilpersonen, Töten von Verletzten und Gefangenen, Folter von Gefangenen, Verletzungen der Scharia, Vergewaltigung und Töten von Frauen und so weiter. Gefragt, worauf sie diese Verbote stützten, nannten 78 Prozent die Religion, 45 Prozent die Menschenrechte, 27 Prozent das Gesetz und 21 Prozent ihre persönlichen Grundsätze (Mehrfachantworten möglich) - internationales Recht war nur beschränkt bekannt und fand nur ebenso beschränkt Vertrauen.

Auch für das Verhalten gegenüber Gefangenen und Verletzten nennen die AfghanInnen Regeln. 64 Prozent geben an, Gefangene dürften nicht gefoltert werden, 78 Prozent finden, dass Gefangene auch dann nicht getötet werden dürften, wenn die andere Seite dies tut. 65 Prozent schonen das Leben eines sich ergebenden Feindes auch dann, wenn er eine nahe stehende Person umgebracht hat. ZivilistInnen sollen von den Kämpfen verschont werden, finden 62 Prozent; weitere 32 Prozent sind pragmatischer und möchten sie «so weit wie möglich» verschonen - auch dann, wenn sie mit dem Feind kooperiert haben oder dazu gezwungen wurden.

Diese Angaben über Verhalten und Normen der AfghanInnen im Krieg stammen aus einer Umfrage, die das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) im Sommer 1999 durchführte. Es tat dies nicht nur in Afghanistan, sondern noch in elf andern Kriegsländern auf allen Kontinenten. Äusserer Anlass dazu war das 50-Jahr-Jubiläum der Zusatzprotokolle zu den Genfer Konventionen und die Tatsache, dass die Regeln der internationalen Verträge in bewaffneten Konflikten zunehmend verletzt werden. Ausser den Opfern selber erlebt dies niemand unmittelbarer als diese Organisation, die in praktisch allen Konflikten dieser Welt den Opfern beisteht und dabei immer öfter selber das Opfer von Übergriffen wurde und deren Mitarbeiter zur Zielscheibe in Kämpfen wurden. Mit den Umfragen wollte das IKRK die Diskussion darüber in Gang setzen, dass «auch Krieg seine Grenzen hat»: Nach jahrelangen weltweiten Bemühungen zur Verbreitung der Prinzipien des humanitären Völkerrechts - bis zuletzt auch über Programme im Taliban-Radio in Afghanistan -, wollte das IKRK Menschen über ihre Kriegserfahrung berichten und ihre Normen für Kriegsführung darlegen lassen. Im afghanischen Kontext wurden AfghanInnen in pakistanischen Flüchtlingslagern, im Taliban-kontrollierten Kabul und auch in den Regionen der Nordallianz befragt. Die Resultate zeigen, dass auch angeblich notorische Krieger wie die Afghanen Grenzen des Kriegs anerkennen und fordern - ein kleiner Hoffnungsschimmer? Doch an den «Gesprächen über Afghanistan» in Bonn nehmen, wie immer in solchen Fällen, Vertreter jener drei Prozent teil, die der Meinung waren, im Krieg sei alles erlaubt.

Die IKRK-Umfrageergebnisse wurden in Buchform und im Internet veröffentlicht: www.icrc.org, unter «Afghanistan» oder «People on War»