Machtwechsel in Kabul: Die Taliban fürchten die Isolation
In den ersten Tagen nach der Einnahme der Hauptstadt starten die Talibanführer eine Beschwichtigungsinitiative. Die Ungewissheit bleibt gross. Und die Frage ist: Wer wird der künftigen Regierung auf die Finger schauen können?
Am Dienstag, zwei Tage nach der kampflosen Machtübernahme in Kabul, veranstalteten die Taliban ihre erste Pressekonferenz. Sie fand in Kabul im Medienzentrum der ehemaligen Regierung statt, deren Pressechef Dawa Khan Minapal sie noch am 7. August ermordet hatten. Und nun gab sich ihr Sprecher Sabihullah Mudschahed gemässigt. Mit politischen Ansagen zu Themen, über die in der afghanischen und internationalen Öffentlichkeit Besorgnis herrscht, versuchte er das Misstrauen und die Bestürzung über den Sieg der Taliban zu entschärfen. Und damit die Angst, sie würden die repressiven und brutalen Praktiken wieder aufgreifen, die sie vor ihrem Sturz 2001 in Afghanistan durchgesetzt hatten.
So wiederholte Mudschahed zunächst das Versprechen, unter den Taliban werde es eine Amnestie für alle früheren MitarbeiterInnen der Regierung und keine Racheakte an ihnen geben – und auch nicht an Mitgliedern der Sicherheitskräfte. Zuvor hatten sie den früheren Warlord Ismail Khan, der im westafghanischen Herat noch den Widerstand organisiert hatte, sich dann aber ergeben musste, offenbar in den Iran entkommen lassen. Nachdem die Taliban ihn gefangen genommen und in Videos vorgeführt hatten, meldete sich Khan später aus der Stadt Maschhad in der islamischen Republik.
Schon am Vortag hatte Mullah Muhammad Jakub, einer der Vizechefs der Talibanbewegung und Sohn von deren Gründer Mullah Muhammad Omar, die Talibankämpfer instruiert, nicht in Privathäuser einzudringen. «Niemand hat das Recht, Waffen oder Fahrzeuge von früheren Regierungsoffiziellen an sich zu nehmen», sagte er in einer Audiobotschaft, die auch via Social Media verbreitet wurde. Auch öffentliches Eigentum solle geschützt werden. Und zum wiederholten Mal verbreiteten die Taliban zwei Telefonnummern ihrer Beschwerdekommission, an die man sich bei Verstössen wenden könne.
Demonstrativ konziliant
Wie ernst es den neuen Machthabern mit ihrem nachsichtigen Auftreten tatsächlich ist, bleibt freilich abzuwarten. Und bei den vielen potenziell gefährdeten Personen ist die Ungewissheit riesig. Während ihres Vormarsches im Land hatte es Berichte und sogar Videos davon gegeben, wie die Taliban Soldaten, vor allem Mitglieder von Spezialtruppen, die sich ergeben hatten, standrechtlich erschossen. Auch gab es zivile Todesopfer. Diese schrieb Mudschahed der «unkontrollierten Situation» des Kriegs zu, und er benutzte Argumente, die man auch vom US-Militär in Afghanistan kannte. So sprach er ausdrücklich von «Kollateralschäden».
Es werde «keine Diskriminierung» von Frauen geben, erklärte der Sprecher ferner. Die Rechte der Afghaninnen würden vom islamischen Recht, der Scharia, definiert werden, und sie dürften weiterhin einer Arbeit nachgehen. Am Vortag hatte eine Talibandelegation den Gesundheitsminister Wahid Madschruh aufgesucht und ihn und sein Personal – ausdrücklich auch Ärztinnen – ersucht, «wie bisher» weiterzuarbeiten. Hingegen sollen in Kundus Behördenmitarbeiterinnen von der Arbeit nach Hause geschickt worden sein und in Kabul Studentinnen. Es ist aber nicht auszuschliessen, dass dies aufgrund vorauseilenden Gehorsams der Verwaltungen passierte.
Auch gegenüber Bevölkerungsminderheiten gaben sich die Taliban zum Wochenbeginn konziliant: Delegationen besuchten am Montag und Dienstag in Kabul demonstrativ VertreterInnen der Hindu- und Sikh-Gemeinschaften sowie eine Muharram-Feier der schiitischen Hasara-Minderheit. Alle drei Gruppen waren in den letzten Jahren Ziel blutiger Anschläge geworden, für die der afghanische Ableger des «Islamischen Staats» (IS) die Verantwortung übernommen hatte. Die Taliban haben diese Angriffe stets verurteilt. Viele AfghanInnen sehen indes keinen Unterschied zwischen den beiden Organisationen, waren bei Talibananschlägen doch bereits Tausende ZivilistInnen getötet worden. Tatsächlich hatten die Taliban den örtlichen IS aber immer bekämpft und ihn in den letzten zwei Jahren in seinen ostafghanischen Hochburgen sogar weitgehend besiegt – in einer unerklärten Koalition mit den damaligen Regierungskräften, die logistische Unterstützung stellten, und mithilfe von Bombardements durch die US-Armee.
«Andere Perspektiven»
Bei der Pressekonferenz am Dienstag widmete sich Mudschahed einer weiteren grossen Besorgnis mit beschwichtigenden Worten: «Alle Medien» seien aufgefordert, ihre Berichterstattung fortzusetzen, sagte der Sprecher. Und verband dies mit drei «Vorschlägen», wie er es nannte: Afghanische Medien sollten unparteiisch sein, sich aber nach «islamischen Werten» richten und auch nicht die «nationalen Interessen» des Landes verletzen. Faktisch hört sich dies an wie der jüngste, wegen Protesten aus der afghanischen Zivilgesellschaft und dem Westen nie umgesetzte Entwurf eines Mediengesetzes der vertriebenen Regierung von Aschraf Ghani. Letztlich sind dies Gummiparagrafen – auslegen werden sie voraussichtlich Talibanrichter, sodass die Medien sich auf eine harte Auseinandersetzung einstellen müssen. Sofern die Taliban solche Diskussionen denn überhaupt zulassen.
Überhaupt machte Sabihullah Mudschahed klar, dass die Taliban den ideologischen Rahmen ihres Programms nicht verändert haben. Ihr Ziel bleibt eine Islamisierung des politischen Systems Afghanistans. «Ideologie und Vorstellungen» der Taliban seien dieselben wie vor 2001, sagte Mudschahed, denn «wir sind Muslime». Aber sie seien jetzt auch «erfahrener» und hätten «andere Perspektiven» gewonnen. Dies zeigt sich durchaus bereits in den Regionen des Landes, die sie seit Jahren beherrschen. Dort etablierten die Taliban zunehmend Verwaltungsstrukturen sowie eine in weiten Bevölkerungsteilen geschätzte, oft harsche, aber auch nicht korrupte Gerichtsbarkeit. Den Betrieb und die Finanzierung von Schulen und Kliniken überliessen sie weiterhin der Regierung in Kabul, die damit ihren Einfluss auf die Talibangebiete zu wahren versuchte. Weil aber auch das Bildungssystem korrupt war – Lehrstellen, Prüfungsergebnisse und Unizulassungen wurden systematisch verscherbelt –, unterschieden sich die Taliban in den Augen vieler Menschen positiv vom Regierungssystem.
Abhängigkeit als Chance
Nun wollen die Taliban selbst mit der Regierungsbildung beginnen. Vizechef Mullah Baradar sprach von einer «offenen, inklusiven islamischen Regierung» – eine Andeutung, dass auch Nicht-Taliban einbezogen werden sollen. Das könnte auch die Erklärung dafür sein, dass die erwartete Ausrufung eines Islamischen Emirats noch nicht erfolgte.
Offenbar haben die Taliban verstanden, dass sie nicht in Isolation von der Welt und gegen eine grosse Bevölkerungsmehrheit regieren können. Insgesamt aber bleibt höchst unklar, ob diese Mässigungstendenzen und Versuche des Pragmatismus von Dauer sein oder mit einer Machtkonsolidierung wieder verschwinden werden. Eine Hoffnung könnte darin bestehen, dass einer Talibanregierung – wie auch schon der bisherigen – über Jahre hinaus die Eigenmittel dafür fehlen, der Bevölkerung auch nur die grundlegendsten Dienstleistungen verfügbar zu machen. Sie wird deshalb auf externe humanitäre und Entwicklungshilfe angewiesen sein. Dies könnte als Hebel dafür dienen, eine internationale und insbesondere eine afghanische zivilgesellschaftliche Präsenz im Land zu erhalten. Denn diese ist eminent wichtig, um die Machtausübung der Taliban künftig aus nächster Nähe verfolgen zu können.