NSA und Afghanistan: Die tödlichen Folgen der Datensammelei

Nr. 32 –

Die Abhörtätigkeit der Geheimdienste hat allein in Afghanistan in den letzten Jahren Dutzende unschuldige Opfer gefordert. Eines von ihnen war der Wahlkämpfer Zabet Amanullah.

Am 2. September 2010 beschossen US-Soldaten in der afghanischen Provinz Tachar einen Konvoi von Abdul Wahab Chorasani, der für die bevorstehende nationale Parlamentswahl kandidierte. Eigentlich hätte man aus den tief fliegenden Hubschraubern, die zur Überprüfung des Gebiets entsandt wurden, die Wahlplakate auf den Fahrzeugen im Konvoi erkennen können.

Doch die Angreifer verliessen sich offensichtlich auf die Angaben, die ihnen von den Geheimdiensten übermittelt worden waren. Diese besagten, dass sich im Konvoi ein Muhammad Amin befand, der Vizeschattengouverneur der feindlichen Taliban für Tachar und gleichzeitig ein hochrangiges Mitglied der Organisation Islamische Bewegung Usbekistans. Doch Amin war, wie eine Untersuchung des Afghanistan Analysts Network (AAN) ergab, nicht im Konvoi. Nur die SIM-Karte eines Mobiltelefons fuhr mit, die er einmal benutzt hatte.

Der Angriff des US-Militärs forderte zehn Tote und sieben Verletzte. Unter den Toten war auch Zabet Amanullah, ein ehemaliger Talibankommandeur mittleren Ranges. Er hatte dem Krieg den Rücken gekehrt, war in seine Heimatprovinz gereist und engagierte sich dort im Wahlkampf. Offenbar war er es, der die SIM-Karte von Amin benutzte. Dadurch, so Kate Clark, die Autorin des AAN-Berichts, seien für die Geheimdienste «die Identitäten beider Männer verschmolzen».

Die Todesliste der Isaf

Wir wissen nicht, welches System der Überwachung – Prism, XKeyscore oder ein bisher noch unbekanntes – dazu geführt hat, dass Zabet Amanullah sein Leben verlor. Bekannt ist jedoch, dass sogenannte Sigint (Signals Intelligence, also die Auswertung elektronischer Signale) zu den Informationen geführt hat, auf deren Grundlage Amanullah auf der Joint Prioritized Effects List (JPEL) gelandet war. Die JPEL ist eine Liste von Führern der Aufstandsbewegung, die jederzeit getötet oder gefangen genommen werden dürfen. Sie wird wöchentlich von verschiedenen Behörden aus jenen Staaten aktualisiert, die Truppen der International Security Assistance Force (Isaf) nach Afghanistan entsandt haben. Auf der JPEL-Liste sollen sich mehrere Tausend Namen finden. Das geht aus einer Auswertung von Wikileaks-Dokumenten durch die britische Tageszeitung «Guardian» hervor.

Ausgeführt werden die JPEL-indizierten «Kill or capture»-Operationen durch die Elitetruppe Task Force 373. Im Juni 2010 musste der Generalinspekteur der Bundeswehr vor ausgewählten Abgeordneten in Berlin zugeben, dass auch Deutschland Kandidaten für die JPEL «nominiere». Durch Wikileaks war herausgekommen, dass dies in mindestens dreizehn Fällen geschehen war. Wie das Nachrichtenmagazin «Spiegel» bereits 2009 berichtete, agiert die Task Force 373 zudem auch aus dem deutschen Militärcamp in Masar-e Scharif heraus, untersteht aber nicht dem dortigen deutschen Befehlshaber.

Keine Recherche

Wie das AAN herausfand, hatten die JPEL-Zuständigen im Fall Amanullahs «die Netzwerkanalyse der Telefongespräche genutzt». Es bleibt unverständlich, weshalb nicht genauer recherchiert wurde. Zwar können AfghanInnen wirklich leicht ihre Namen wechseln (es gibt dort keine festen Nachnamen), und die Taliban verwenden Decknamen, aber die JPEL-Verantwortlichen, so Kate Clark, hätten «selbst die grundlegendste Überprüfung» ihrer Informationen unterlassen. Durch die Einschaltung afghanischer Stellen hätte man aber leicht herausfinden können, «dass der Getötete eine in Tachar bekannte Person war, die man selbst im Kabuler Präsidentenpalast kannte und die im Zusammenhang mit dem Wahlkampf regelmässig in den lokalen Medien präsent war».

Interessanterweise hatte der damalige Oberkommandeur der Isaf, der US-General und spätere CIA-Chef David Petraeus, am Tag des Angriffs in Tachar gegenüber JournalistInnen zugegeben, dass es den US-Geheimdiensten oft am «feinkörnigen Verständnis für lokale Zusammenhänge» in Afghanistan fehle.

Clark fand auch heraus, dass Kommandeur Amin, der das eigentliche Ziel des fehlgeleiteten Angriffs war, immer noch am Leben ist. Sie liess ihn in Pakistan durch einen auch in US-Militärkreisen geschätzten irischen Afghanistanexperten kontaktieren und interviewen. Trotzdem behauptet die Isaf bis heute, dass man am 2. September 2010 den richtigen Mann erwischt habe.

Überwachung aus Europa

Es ist durchaus vorstellbar, dass Amanullah und Muhammad Amin von NSA-MitarbeiterInnen in Deutschland verwechselt wurden, die Afghanistan noch nie aus der Nähe gesehen haben. Denn im Zusammenhang mit weiteren Recherchen über die Spionage der US-Geheimdienste ist kürzlich auch bekannt geworden, dass die National Security Agency (NSA) im deutschen Bad Aibling Daten über Afghanistan sammelt. «Der BND geht davon aus, dass die Abkürzungen Sigad US 987-LA und -LB Bad Aibling der Fernmeldeaufklärung in Afghanistan zuzuordnen sind», teilte der deutsche Bundesnachrichtendienst BND am vergangenen Wochenende mit.

Diese Abkürzungen waren aufgetaucht, nachdem der «Spiegel» weitere vom Whistleblower Edward Snowden an die Öffentlichkeit gebrachte Dokumente publiziert hatte. In Bad Aibling seien lediglich die Verbindungsdaten von «Auslandsverkehren insbesondere in Krisengebieten» erfasst worden, die deutsche Bevölkerung werde von dort aus nicht überwacht.

Die breit angelegte elektronische Überwachung, scheint die BND-Mitteilung zu besagen, ist in Krisenländern wie Afghanistan nichts Aussergewöhnliches. Niemand, der länger in dem zentralasiatischen Land gearbeitet hat, zweifelt daran, dass dort zahlreiche Dienste, darunter auch der heimische afghanische Geheimdienst NDS, umfassend jegliche Art der Telekommunikation überwachen. Aber nur selten dringen Fakten an die Öffentlichkeit.

Dass auch der deutsche Nachrichtendienst seine Finger im Spiel hat, kam heraus, nachdem ein BND-Whistleblower in einem anonymen Brief berichtet hatte, dass der E-Mail-Verkehr einer deutschen «Spiegel»-Journalistin mit einem afghanischen Minister über sechs Monate mitgelesen worden sei. Ziel der Ausspähung sei der Minister gewesen, auf dessen Computer ein Trojaner installiert worden war.

Kein Einzelfall

Die deutsche Verfassung garantiert zwar das Fernmelde- und Telekommunikationsgeheimnis, aber AfghanInnen können sich nicht darauf berufen. Davon scheinen auch andere Isaf-Staaten in Afghanistan auszugehen. Allerdings garantiert auch die afghanische Verfassung ein umfassendes Kommunikationsgeheimnis, «sofern das Gesetz es nicht anders bestimmt». Nun sind in Afghanistan eine ganze Reihe von Gesetzen und Präsidialdekreten nie veröffentlicht worden, darunter das Geheimdienstgesetz. Ausserdem ist nicht bekannt, welche Freiheiten Kabul den Isaf-Truppen und den Geheimdiensten eingeräumt hat. Auch die administrative Anordnung, auf der die NSA-Überwachungstätigkeit in Deutschland beruht, ist geheim.

Dass durch Abhören erhobene Geheimdienstdaten zu verhängnisvollen Verwechslungen führen können, ist keine Ausnahme, wie Clark in ihrem Bericht schreibt.

Sie listet sechs weitere Fälle zwischen 2008 und 2011 auf, in denen «Ziele verwechselt [worden] oder Zielinformationen falsch» waren. Dabei starben etwa 200 ZivilistInnen, darunter zahlreiche Kinder.

Der Autor ist Mitbegründer des Afghanistan Analysts Network, war aber an der Untersuchung dieses Falls nicht beteiligt.

Prozess in London

Die Frage, ob britische Polizeiquellen benützt werden, um die Todesliste der Isaf-Truppen in Afghanistan zu erstellen, wird seit dem 1. August von einem Londoner Gericht geprüft. Die Anwälte des afghanischen Bankangestellten Habib Rahman brachten den Fall auf.

Er hatte bei einem tödlichen Angriff der US-Armee in Afghanistan, der aufgrund dieser Todesliste ausgeführt wurde, fünf Verwandte verloren, darunter seinen Onkel Zabet Amanullah (vgl. «Die tödlichen Folgen der Datensammelei»).

Rahmans Anwälten zufolge spielte dabei die polizeiliche Serious Organised Crime Agency eine Rolle – obwohl sie sich nicht in Kriege einmischen darf.