Wissenschaftsstandorte (7): Academia im Wunderland

Was macht man, wenn man ein Jahr lang am prestigeträchtigen Institute for Advanced Study in Princeton (USA) weilt? Man spaziert um Teiche, liest ein Buch, verliert die Agenda und hängt seinen Gedanken nach. Unter anderem.

Das Institute for Advanced Study (IAS) in Princeton im amerikanischen Bundesstaat New Jersey hat viele Namen: Ein intellektuelles Hotel nannte es der Physiker J. Robert Oppenheimer. Ein Hafen war es dem aus dem nationalsozialistischen Deutschland vertriebenen Albert Einstein (aber auch ein Podest, das ihn zum Denkmal versteinerte). Ein Gewächshaus für menschliche Orchideen, sagt mein Nachbar. Ein Klassenlager, befinden meine Kolleginnen. Ein allzu liebliches Haus am Waldrand nannte es der Physiker Richard P. Feyman. Eine aussereheliche Affäre, findet meine Büronachbarin.

Am häufigsten aber sagt, wer vom IAS spricht, «this place». Was eigenartig ist, denn fast könnte man meinen, dieser Ort sei keiner. Die Stadtkarten und Strassenpläne der Region kennen ihn nicht, verzeichnen nicht die Flexner Lane, die Oppenheimer Lane, die Weyl Lane, den Einstein Drive, den von Neumann Drive. (Was besonders dem Lieferdienst der «New York Times» Probleme bereitet – erst nach mehrmaligen Telefonaten fand die Zeitung ihren Weg in meinen Briefkasten an der Goldman Lane.)

Doch eigentlich steckt darin ganz viel Wahres: So extraterritorial der Ort IAS ist, so ausseralltäglich ist es, hier zu sein. Das mag erklären, wieso «this place is ...» das beliebteste Konversationsspiel derjenigen ist, die hier als so genannte Members ankommen. 190 werden jährlich im Anschluss an ein Bewerbungsverfahren eingeladen, um einige Zeit hier zu bleiben – üblicherweise für ein Jahr die Historikerinnen und Sozialwissenschaftler, für drei Jahre die Mathematiker und Naturwissenschaftlerinnen. Als wäre der Ort erst ein Ort, wenn er einen Namen hat, der nicht nur die Örtlichkeit benennt, sondern den Zustand des Hierseins.

Tatsächlich will das IAS einen Zustand herbeiführen, nämlich den der maximal ungestörten intellektuellen Produktivität («ein Zentrum, an welchem Geistesarbeit unter den günstigsten Umständen betrieben werden kann», lässt sich in der offiziellen Selbstdarstellung des Instituts nachlesen). Das heisst: keine Stundenpläne, keine Studierenden, keine Lehrverpflichtungen, kein Einwerben von Drittmitteln, ja überhaupt keine Verpflichtung ausser diesen beiden: Anwesenheit und die Bereitschaft, andern Einblicke in die eigene Arbeit zu gewähren und sich für die Arbeit der andern zu interessieren. Jedes Member kriegt ein Appartement und ein Büro, wird bei seiner Arbeit in Ruhe gelassen und im Einladungsbrief darüber informiert, dass nur kurzzeitige Abwesenheiten zulässig sind.

Und so ist der Zustand des Memberseins zwar extraterritorial im wörtlichen und im übertragenen Sinne, aber eigentlich doch sehr örtlich. Die Örtlichkeit ist im Wesentlichen: ein Wald. Ein Wald in New Jersey, der im Süden an einen stillgelegten Schifffahrtskanal grenzt, sich nach Norden hin auflockert und Platz macht für einige Häuser: Fuld Hall, das erste Institutsgebäude, erbaut 1939, beherbergt nebst anderen auch Einsteins ehemaliges Büro (wird genutzt und ist nicht zu besichtigen) und einen zum Park hin offenen Salon mit siebzehn Ledersesseln, in dem nachmittags Tee, Kaffee und Kuchen serviert werden. Die Bürogebäude der Naturwissenschaften und der Mathematik liegen auf einem grünen Rasen hingestreut. Eine Bibliothek, gebaut 1965, verschwindet zwischen den Bäumen und öffnet sich in einer weiten Fensterfront zum Teich hin. Schliesslich ein Birkenwäldchen, versteckt im Innenhof des Bürogebäudes für Historikerinnen und Sozialwissenschaftler. Nebenan, fast schon im Wald, breitet sich die Wohnsiedlung aus, eine Ansammlung schachtelartiger Häuser aus Holz und Backstein, entworfen von Marcel Breuer, gebaut 1954 bis 1957, in so genanntem «schwachem Bauhaus» gehalten.

Diese ganze abgeschiedene Herrlichkeit verdankt sich der Verführungskraft der Warenwelt. Als Louis Bamberger, Sohn deutsch-jüdischer Immigranten, sich im Sommer 1929 entschloss, sein Warenhausimperium zu verkaufen, führte ihm eine gute Portion Intuition oder Glück die Hand. Nur wenige Wochen vor dem Börsencrash im Oktober waren die Verkaufsverhandlungen abgeschlossen, und Bamberger hatte rund 25 Millionen Dollar in der Tasche. Eine Million verschenkte er seinen 240 Angestellten. Weitere Donationen gingen an soziale und kulturelle Einrichtungen. Mehrere Millionen schliesslich reservierten Bamberger und seine Schwester Caroline Bamberger Fuld für eine medizinische Hochschule in ihrer Heimatstadt Newark, welche die an andern Bildungsinstitutionen diskriminierten jüdischen Studenten bevorzugen sollte. Diese Schule allerdings sollte es nie geben – stattdessen entstand das Institute for Advanced Study.

In Abraham Flexner hatten die Bambergers auf ihrer Suche nach einem Berater einen intimen Kenner des US-amerikanischen, des deutschen und des englischen Bildungssystems gefunden. Flexner verwarf die Bamberger'sche Vision einer medizinischen Hochschule in Bausch und Bogen. Stattdessen schlug er dem Geldgeber und der Geldgeberin die Stiftung einer Institution vor, die in maximaler Freiheit von äusserem Druck Ort einer «freien Gesellschaft von Wissenschaftlern» sein sollte. Ausserdem wandte sich Flexner gegen den Standort Newark in unmittelbarer Nachbarschaft von Manhattan. Abseits, aber unweit der Metropolen New York, Philadelphia und Washington sollte seine Gelehrtenwelt zu stehen kommen. Oder, so könnte man auch sagen: in einen Gleichgewichtszustand zwischen der absoluten Ruhe der Wälder und der intellektuellen Gärkraft der grossen Städte. Flexners radikale Vision überzeugte die Bambergers: 1930 wurde das IAS gegründet, 1933 offiziell in Princeton, Sitz einer Eliteuniversität und beschauliche Kleinstadt aus rund drei Hauptstrassen und vielen weissen Villen im Kolonialstil, eröffnet. Noch heute finanziert sich das IAS weitgehend aus den Erträgen der Bamberger'schen Stiftungsgelder, daneben aber auch aus privaten und staatlichen Stipendien sowie diversen Schenkungen.

So ambitiös Flexners Vision war, so glamourös war der akademische Auftakt: Kein Geringerer als Albert Einstein liess sich 1932 als erster Professor gewinnen. Das IAS bestand denn auch zunächst nur aus der School of Mathematics; später kamen die School of Natural Sciences und die School of Historical Studies hinzu. Erst 1973 wurde unter der Direktion des Ökonomen Carl Kaysen die School of Social Science gegründet – gegen den erbitterten Widerstand der bereits bestehenden Schulen.

Kaysen beschaffte das Geld für einen ersten sozialwissenschaftlichen Lehrstuhl ausserhalb des ordentlichen Budgets und brachte die Berufung des Anthropologen Clifford Geertz durch. Und der «Bastard» oder das «ungeliebte Stiefkind» – wie die Sozialwissenschaften hier gelegentlich noch genannt werden – liess sich nicht mehr vertreiben: 1974 berief das Institut den Ökonomen und Mitverfasser des Marshall-Plans Albert O. Hirschmann, gebürtigen Berliner und im Marseille der Jahre 1940 und 1941 Fluchthelfer zahlreicher EmigrantInnen, darunter Heinrich Mann, Siegfried Kracauer und Hannah Arendt. 1980 folgte die Berufung des Politologen und Moralphilosophen Michael Walzer, 1985 jene der Historikerin Joan Scott und schliesslich 2000 die des Ökonomen Eric Maskin.

Anders als die School of Mathematics und die School of Natural Sciences bringen die School of Historical Studies und die School of Social Science dem Institut kaum Nobelpreise ein – wie ein Wissenschaftsjournalist einmal leicht indigniert vermerkte.

Der Genius funktioniert anders in diesen Disziplinen. Hier gibt es so genannte «miracle years». Zum Beispiel 1975/76, als Anthropologinnen und Historiker in einem Seminar über die symbolische Dimension von Gesellschaft zusammenkamen und eine Zusammenarbeit von Anthropologie und Geschichte begründeten, welche die Geschichtswissenschaft nachhaltig verändern sollte. Und dann gibt es die kleinen, wissenschaftshistorisch wohl vernachlässigbaren, aber magischen Momente, wenn im Gespräch mit dem Kollegen aus der Physik historische Familienstrukturen die Relativitätstheorie erklären und umgekehrt. Oder wenn der Kollege aus der Astrophysik für seine sozialwissenschaftlichen Kolleginnen am Computer tanzende Sterne erfindet, die aussehen wie Zeichnungen von Louise Bourgeois. Oder wenn man herausfindet, dass die Leidenschaft für implodierende Sterne und Gamma Ray Bursts nicht so weit entfernt ist von der Leidenschaft für längst vergangene Dinge: Wo der Gegenstand weit weg ist und die Informationen fragmentarisch sind, da ist Fantasie so wichtig wie Präzision.

Überhaupt die Sterne und die Elementarteilchen – für die NaturwissenschaftlerInnen gilt wie für die Historiker und Sozialwissenschaftlerinnen: Freiheit von äusserlichen Zwängen heisst auch, dass pure Neugier Grund genug ist für die Arbeit, die hier verrichtet werden soll. Kein unmittelbarer Pay-off, kein direkt verwertbares Wissen, ja nicht einmal «Anwendbarkeit» muss sein. Und so schlägt die Neugier in alle Richtungen aus, mag in einen Nobelpreis münden und in die lang ersehnte «theory of everything» (unter den hier anwesenden Stringtheoretikern befinde sich der neue Einstein, geht die Rede) oder ins Bild eines implodierenden Sterns, den es möglicherweise gar nicht gibt. Das IAS weiss: Niemand weiss, was morgen oder auch vielleicht heute schon in einem verrätselten Zusammenhang relevant sein mag – oder auch nur schön und klug genug, dass es einen Gedanken wert ist. Als einer der wichtigsten nichtinstrumentellen, gänzlich zweckfreien Think –Tanks der USA ist das IAS, ursprünglich inspiriert von inzwischen verschütteten europäischen Bildungstraditionen, seinerseits Vorbild geworden für ähnliche Institutionen in Europa, wie zum Beispiel das Wissenschaftskolleg in Berlin.

Zwar ein Doktortitel, nicht aber Prestige und schon gar nicht ein stromlinienförmiges akademisches Curriculum ist Voraussetzung für eine Einladung ans IAS. Hier kreuzen sich unterschiedlichste akademische Biografien. Natürlich sind da das blutjunge argentinische Mathematikgenie und der Star aus der deutschen Gelehrtenwelt. Aber auch die ehemalige Nonne, die über Wissenschaftstechnologien und menschliche Körper forscht, oder der ehemalige Schreiner, der die Geschichte des Gleichgewichts schreibt. Und natürlich ist dieser Ort nicht frei von all den mehr oder weniger subtilen Gesten akademischer Konkurrenzrangeleien. Doch oft ist das polyglotte und kosmopolitische Geflecht von Lebensläufen, Interessen und Passionen, das sich aus den vom IAS ausgesprochenen Einladungen ergibt, für solche Reibereien einfach zu unübersichtlich.

Das alles ist bezaubernd. Aber: Jedes Wunderland hat sein Unheimliches. Zwar ist der Waldfaktor die eine Achse im mentalen Koordinatensystem der Members (die Welt verschwindet hinter den Bäumen, Sachzwänge versinken im Teich, Agenden verflüchtigen sich im Park). Doch der Grad der Bedrängnis ist die zweite. Denn Freiheit von jeglichem Zwang ist so schön wie verpflichtend – sie bedeutet auch: Es gibt keine Ausrede und keine Entschuldigung für diejenigen, die hier keine klugen Sätze, Vorträge, Artikel und Bücher produzieren. Auf dieser Achse lebt es sich nicht einfach. Im radikalen Freiheitsraum, den das IAS offeriert, ist auch der radikale Selbstzweifel zu Hause. Der eine oder andere sei darob schon verrückt geworden, ist hinter vorgehaltener Hand zu vernehmen. Im weniger dramatischen Fall kommt vielleicht einfach nichts zustande – ausser der krisenhaften Erkenntnis, dass Kreativität wankelmütig und eigensinnig ist, dass sie ihre Überschüsse, aber auch ihre Aussetzer hat. Oder es kommt erst nach einiger Zeit etwas zustande. Vielleicht dann, wenn sich das Staunen verflüchtigt hat: das Staunen über einen Ort, an dem so viele Menschen aus der wirklichen Welt zusammen ein unwirkliches Ganzes ergeben, das so bestechend wie verstörend ist.

Doch vielleicht hat die Ruhe hier auch nur den Sinn – und das ist nicht wenig –, dass man jede mögliche Frage stellen kann, nur um genau hinzuhören, ob sich ein Echo vernehmen lässt. Gelegentlich aber ist es zu still und die Welt zu weit weg, als dass es ein Echo geben könnte. Dann ist es an der Zeit, in den Zug nach New York zu steigen. Auf der Rückfahrt will ich für eine Stunde glauben, dass dieser Ort, zu dem ich hinfahre, wirklich ein Ort ist, eine Haltestelle des New Jersey Transit, verzeichnet auf den Fahrplänen, dem Kondukteur bekannt. Wenn mir aber auf dem Heimweg vom Bahnhof sechs Rehe über den Weg laufen, dann weiss ich: Der Zugschaffner war ein weisses Kaninchen, der Zug seine Höhle – und ich bin Alice im Wunderland.

Zur Autorin

Die Historikerin und Soziologin Caroline Arni verbringt ein Forschungsjahr am Institute for Advanced Study in Princeton (USA).

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