Wo die Not ein guter Lehrmeister sein soll

Aufstehen solle er, wenn er das erzähle, sagt einer seiner Verwandten. Doch der junge Mann in dem blau-roten Trainer fühlt sich noch zu wackelig auf den Beinen. Er bleibt auf der Böschung am Wegrand sitzen. Im Halbkreis um ihn herum stehen Familienangehörige und eine Gruppe von JournalistInnen, die auf Einladung des Schweizerischen ArbeiterInnenhilfswerks (SAH) dessen Wiederaufbauprojekte im Nordwesten des Kosovo besucht. Wir haben uns vor einem der Häuser der Familie getroffen, von dem nur noch die Mauern stehen, Fenster, Türen und das Dach sind verbrannt. Im Auftrag des SAH wird gerade ein neuer Dachstuhl aufgesetzt. Doch jetzt haben auch die Zimmerleute ihre Arbeit unterbrochen, um der Geschichte der Familie Imeraj zuzuhören.
Die Imerajs leben in dem Weiler Padaliste, im Osten der Provinz Istog, der schon zum Einzugsbereich von Mitrovica gehört. Am 26. März 1999 wurden neunzehn Familienmitglieder von serbischen Polizisten umgebracht, das jüngste Opfer war achtzehn Monate alt, achtzig Jahre das älteste. Acht weitere wurden schwer verwundet, darunter der Erzähler, der mit zwölf Kugeln im Leib davonkam und jetzt, nach einem Jahr, wieder Gehübungen macht, von den Häusern zur vielleicht hundert Meter entfernten Strasse, die Peja mit Mitrovica verbindet, und zurück.

Weltpolitik in Padaliste

Der junge Mann erzählt ohne sichtbare Emotionen. Von mehreren Seiten, berichtet er, fielen sie in das kleine Tal ein, von der Strasse kamen sie, aber auch von den Hügeln herunter, tausende. Auch ein Bekannter aus Cerkules, dem serbischen Dorf in der Nähe, soll dabei gewesen sein. «Wir sind keine Nachbarn mehr», habe der gesagt. Sie schossen in die Häuser, trieben die BewohnerInnen heraus, brachten sie gleich an Ort und Stelle um oder schleppten sie ein paar hundert Meter weiter, um sie dort zu erschiessen.
Der Übersetzer benutzt Wendungen, die man bei ähnlichen Geschichten aus jenen Tagen, in denen die serbische Macht die albanische Bevölkerung aus dem Kosovo vertrieb, schon öfter gehört oder gelesen hat. Man kann sich aber auch vorstellen, dass die Imerays immer wieder von der Ermordung ihrer Angehörigen berichten und dass sie nach und nach zu einer Version gelangt sind, die ihre Geschichte zum «Fall Imeraj/Padaliste» machte. Als solcher wurde er von einem Untersuchungsteam des Haager Gerichtshofes für Kriegsverbrechen in Ex-Jugoslawien registriert und diente zur Rechtfertigung der Nato-Intervention im Kosovo. Weil so etwas geschah oder geschehen konnte, kam die Kriegsmaschinerie ins Rollen, fielen die Bomben. Sagten die Zuständigen im Westen.
Insofern möchte man es schon genau wissen. Und doch gestalten sich Nachfragen reichlich gequält, Ungereimtheiten – wurden sie nun von Soldaten, Polizisten, Milizen, serbischen Nachbarn überfallen? – werden umgangen. Warum gerade die Imerajs? – Sie wissen es wirklich nicht, und sie hatten mit den serbischen Nachbarn doch immer gute Beziehungen. Und im Grunde ist das ja auch die passende Antwort. Neunzehn Tote – wären sie bei schlechtnachbarschaftlicher Beziehung oder gar bei Sympathien mit der UCK, der kosovo-albanischen Befreiungsfront, eher erklärbar?
Noch die persönlichste Frage verwandelt sich in Hochnotpolitisches, denn so wird sie ganz selbstverständlich aufgenommen und beantwortet. Wie soll es mit ihnen weitergehen? – Die Imerajs denken noch nicht daran, wer künftig den Witwen die Felder bestellt, Holz hackt oder wer sie in die nächste Stadt zum Einkaufen fährt; wer nach dem Tod ihrer Männer und Söhne zum Arbeiten ins Ausland geht und das dringend benötigte Geld nach Hause schickt. All das, scheints, hören sie nicht aus der Frage heraus. Dafür aber die seit Ausbruch der jugoslawischen Auflösungskriege vor zehn Jahren immer gleiche Unterstellung: Glauben Sie, mit ihren bisherigen serbischen Nachbarn weiter leben zu können? Die Antwort ist in etwa die gleiche, ob von den Imerajs oder von all den anderen: Was sollen wir schon von ihnen denken, wo sie uns einfach umgebracht haben? Und: Solange die Kfor hier ist, leben auch noch Serben hier. Wenn die Soldaten einmal abziehen, müssen auch sie weg.
Am Rand der Strasse, nahe bei der Abzweigung des Feldwegs nach Padaliste, sind auf einer kleinen, exponierten Anhöhe, die einen weiten, beruhigenden Blick bietet, die neunzehn Toten begraben. Männer arbeiten an diesem Spätnachmittag an einer eisernen Umzäunung des Grabfeldes, eine gemeinsame Tafel mit kleinen Bildern der Toten steht bereits, daneben flattert die tiefrote Fahne mit dem Doppeladler, die albanische Nationalflagge: Das Familiengrab wird zur nationalen Gedenkstätte, und am nächsten Tag, nicht zwei Tage später, wenn sich das Massaker jährt, soll sie feierlich eingeweiht werden. Der nächste Tag ist der erste Jahrestag des Beginns der Nato-Bombardierungen.

Ein Lied für die Nato

Man muss an diesem 24. März schon sehr darauf achten, um hier im Nordwesten des Kosovo Hinweise zur Erinnerung an den Kriegseintritt der Nato zu finden. Ein paar Spruchbänder, quer über eine Strasse gespannt, die die «Friedensmission» der Nato und die «kosovarischen Gefallenen» preisen, ein paar noch recht unverblasste Unabhängigkeitsfahnen, hin und wieder Autoaufkleber für ein «unabhängiges Kosova»; im Radio auf Englisch, damit es auch die Ausländer verstehen, ein unerträglich triefiges Lied über das Leiden und die Freiheit Kosovas, das aber, gut möglich, auch an allen anderen Tagen laufen könnte, die Sängerin soll ein Star sein; im Hotel ein handgeschriebener Anschlag neben der Rezeption. Das wars schon. Im Grunde begann ja auch nur für uns in Westeuropa der Krieg erst am 26. März letzten Jahres. Und vielleicht stimmt ja wirklich, was immer wieder zu hören ist: Für Politik habe man noch keine Zeit.

Kopf und Bauch

«Jeder sucht seinen Platz für die Zukunft und versucht erst einmal, über die Runden zu kommen», sagt Bajram Zeqiri. Um Politik soll es für den fünfzigjährigen Schreiner demnach nicht gehen in dem, was bei uns als Machtkampf verschiedener albanischer Fraktionen dargestellt wird. Sein Haus und seine Werkstätten oberhalb von Peja waren vor einem Jahr von der jugoslawischen Armee besetzt worden, die von hier die ganze Stadt unter Beschuss nehmen konnte. Nato-Bomber legten darauf alle Gebäude auf dem Hügel in Schutt und Asche. Zeqiri war nach Montenegro geflüchtet, und nach seiner Rückkehr hatte er das Glück, mit Hilfe des SAH und dank eines Schweizer Spenders nicht nur eine der alten Werkstätten als Wohnhaus wieder aufbauen, sondern auch eine kleine Halle für eine neue Schreinerei errichten zu können. Mittlerweile steht der Rohbau, und auch die ersten neuen Maschinen wurden bereits aus der Türkei angeliefert. Mit zwanzig Arbeitern will er schon bald Bauholz fertigen, dann Fenster und Türen und irgendwann auch wieder Möbel. «Eine Wiedergeburt», sagt er. Wie er da vor uns sitzt, kann man ihm schon abnehmen, dass er Politik nicht als lebenswichtige Angelegenheit betrachtet.
Obgleich: Kann man im Kosovo nach all den Jahren der Repression und des Widerstands Politik nicht ernst nehmen? Immer wieder reagieren diejenigen, die wir auf die politischen Einstellungen und Entwicklungen unter den AlbanerInnen hier in Peja ansprechen, auffällig abgeklärt, distanziert, fast schon desinteressiert. Als lohne es nicht, darüber zu reden. Gut, es mag wirklich ermüden, den unendlich vielen AusländerInnen, die als JournalistInnen, für die Uno, die EU oder im Gefolge der 350 im Kosovo tätigen internationalen Hilfwerke durchs Land ziehen, immer wieder die gleichen Fragen beantworten zu sollen; Fragen nach den Schattenseiten auch der albanischen Politik, den internen Auseinandersetzungen unter den Führern, ihren Machtansprüchen, ihren Vergeltungsaktionen. Nur um aus all den Fragen die kaum verhüllte Aufforderung herauszuhören: Nach dem, was ihr durchgemacht habt, seid doch wenigstens ihr nett. Verständlich, wer darauf ausweichend oder gar trotzig reagiert.