Genderfluid im Reich der Elfen Wer hat Angst vor einem politisch korrekten «Herrn der Ringe»?

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Veränderungen wecken Ressentiments, selbst wenn es «nur» um Fantastisches geht. Als im Frühjahr erste Bilder der neuen «Herr der Ringe»-Serie zu sehen waren, fluteten aufgebrachte Fans die Kommentarspalten im Netz mit einem Zitat J. R. R. Tolkiens, der einst die berühmte Romanvorlage verfasst hatte: «Das Böse kann nichts Neues erschaffen, es kann lediglich verderben und zerstören, was die Kräfte des Guten erfunden und erschaffen haben.» Anlass des Trollaufstands: Im von Amazon für fast eine halbe Milliarde US-Dollar produzierten Spin-off durften auch Schwarze Dar­stel­ler:in­nen Zwerginnen und Elfen spielen. Auch die stets um bewährte Hier­archien besorgte NZZ fragte aufgeschreckt: «Wird Mittelerde politisch korrekt?»

Schon die kurz zuvor ausgestrahlte Adaption eines anderen Fantasyklassikers – Robert Jordans «Das Rad der Zeit» – hatte einen diversen Cast und damit Wut im Netz provoziert. «Die Leute sind daran gewöhnt, fantastische Geschichten und Märchen als exklusiv weisse Angelegenheit zu betrachten», resümierte die Literaturwissenschaftlerin Ebony Elizabeth Thomas im «Guardian» die Aufregung um die Besetzungspolitik.

Genau mit solchen überkommenen Konventionen will eine neue Generation deutschsprachiger Fantasy­­au­tor:in­nen brechen – auch abseits von Konzernen wie Amazon oder Netflix, bei denen Diversity heute Teil des Marketings ist. 2020 veröffentlichte der Schriftsteller James A. Sullivan, Verfasser mehrerer erfolgreicher Science-Fiction- und Fantasyromane, gemeinsam mit Judit­­h Vogt ­einen Aufruf mit dem Titel «Lasst uns Progressive Phantastik schreiben!». Leitgedanke des Manifests: Fantasystorys müssten her, die mit inhaltlichen wie formalen Klischees brechen und die Möglichkeiten des Genres nutzen, um Machtstrukturen offenzulegen und die an den Rand Gedrängten sichtbar zu machen.

Cos­player:innen im Porträt

Melanie in der Figur als Königin Daenerys Targaryen aus der Serie «Game of Thrones»
Melanie (31) lebt in Basel und arbeitet als Musiklehrerin. Im Porträt stellt sie die Königin Daenerys Targaryen aus der Serie «Game of Thrones» dar. Sie identifiziert sich mit dieser Figur, weil sie eine «Kämpferin ist, die weiss, was sie will». Gleichzeitig sei sie eine verletzliche junge Frau, die für ihre Fähigkeiten bewundert und geliebt werden wolle. Die Verwandlung, inklusive Perücke, Kontaktlinsen und anderer Accessoires, dauert etwa zwei Stunden. Auch sonst verkörpert Melanie gern starke weibliche Figuren, von der Elbin Tauriel aus der «Hobbit»-Trilogie bis zu Dolores Abernathy aus der HBO-Serie «Westworld». (Alle Fotos aus der Serie) Foto: Florian Bachmann

Fantasy soll also Marginalisierungen in den Fokus rücken – wo doch dieses Genre besonders den Ruf des Rückwärtsgewandten geniesst? «Gerade wir Fan­tast:in­nen können ja über Dinge sprechen, die die nichtfantastische Literatur viel schwieriger thematisieren kann, weil sie in höherem Masse in gegenwärtigen Strukturen festsitzt», entgegnet Sullivan im Gespräch. Zwar gelte traditionell die Science-Fiction als aufs Utopische spezialisierte Sparte. «Aber auch wenn ich einen Fantasyroman schreibe, kann ich relevante Fragen aufwerfen: etwa wie eine Welt aussähe, wenn manche Dinge schon immer ganz anders gewesen wären.»

Wie man sich das vorzustellen hat, führt Sullivan in den beiden Teilen seiner 2021 und 2022 veröffentlichten «Chroniken von Beskadur» vor. Diese erzählen vom jungen Elfen Ardoas, der sich aufmacht, das verlorene Wissen einer legendären Magierin wieder­zuerlangen. Das klingt nach einem handelsüblichen Plot, was aber nur vordergründig stimmt: So können bei Ardoas’ Elfenstamm Heranwachsende ihre Körper entsprechend ihrer sich herauskristallisierenden geschlechtlichen Identität anpassen. Selbstverständlich existieren bei Sullivan, der Sohn eines US-Amerikaners und einer Deutschen und selbst Schwarz ist, nichtweisse Figuren. Und auffällig ist auch, wie fürsorglich bei ihm der junge Reisende und die zwei Be­glei­ter:in­nen, die er auf seinem Trip aufliest, miteinander umgehen: Care-Arbeit ist selbst im Reich der Fabelwesen unabdingbar. Schliesslich stürzen sich die Ge­fährt:in­nen sogar in eine Ménage-à-trois.

Von vornherein verdächtig

Das mag erzwungen klingen, ist aber in den «Chroniken von Beskadur» geschickt in die Handlung gewoben. Trotzdem fällt es auf, wenn statt der üblichen Heldenfiguren auf einmal genderfluide Elfen zu fantastischen Abenteuern ausziehen: Das Genre fingiert zwar alles Mögliche, in Sachen soziale Werte und Codes ist man traditionell aber meist konservativ.

Ohnehin gilt das Genre als wenig wertvoller Zeitvertreib: Seit jeher wird ihm ein Hang zum Eskapismus, zur Wirklichkeitsflucht, vorgehalten. Das weiss auch Sulliva­n, der Literaturwissenschaft studierte, ehe er mit dem Schreiben begann. Im schlechten Ruf, den die Fantasy hat, sieht der 48-Jährige das Fortwirken eines sehr alten Diskurses: Schon in Zeiten des wilhelminischen Kaiserreichs machten Pädagogen und Politiker im deutschsprachigen Raum viel Aufheben um das, was für sie «Schmutz- und Schundliteratur» war. «Damals sorgte man sich über die vermeintlich schädliche Wirkung, die Bücher insbesondere auf Kinder haben könnten. Und alles, was nicht von der Realität erzählte, sondern von Geistern oder Drachen, galt da von vornherein als verdächtig», sagt der im Rheinland lebende Autor. Ähnlich verhalte es sich noch heute mit Fantasystorys.

Sullivan hält dem entgegen, dass Literatur nie unmittelbar die Realität abbilde – und ausserdem stets von der eigenen Gegenwart erzähle, egal ob sie sich eine andere Welt ausdenkt oder im Alltag Anfang des 21. Jahrhunderts verortet ist. «Wir Fan­tast:in­nen sind aber immerhin so fair, unsere Texte auch als Fiktion zu markieren und zu sagen: Das hier sind unsere Spielregeln, wir sind in einer anderen Welt. Vielleicht könnt ihr da etwas für eure Realität herausholen. Vielleicht hilft unsere Spielart euch sogar dabei.»

Radikal unverkrampft

Gleichwohl kennt das Genre natürlich fragwürdige Entwicklungen. Als etwa Peter Jacksons mehrteilige Kino­verfilmung von «Der Herr der Ringe» für einen weltweiten Fantasyboom sorgte, versuchten deutsche Verlage, auf dieser Welle mitzusurfen, indem sie reihenweise Bücher auf den Markt brachten, die sich den einzelnen Gattungen des von Tolkien imaginierten Kosmos widmeten: «Die Orks» oder «Die Zwerge» wurden zu Bestsellern, die sogenannte «Völkerfantasy» florierte auf dem Buchmarkt. Auch Sullivans Debüt, der gemeinsam mit Bernhard Hennen verfasste Roman «Die Elfen», fiel in diese Sparte.

Kommerzielle Erwägungen prägten so, wie man sich andere Welten ausmalte. Was durchaus problematisch ist: Nicht nur klingt der Begriff «Völkerfantasy» zweifelhaft, sondern man könnte darin vielleicht sogar einen ins Fantastische projizierten «Ethnopluralismus» erkennen, in dem jede «Rasse» ihre ureigenen Merkmale und Traditionen aufweist.

Zudem war die Szene der Fan­ta­sy­au­tor:in­nen selbst lange nicht unbedingt die aufgeschlossenste. So erlebte es zumindest Nora Bendzko, eine in Wien lebende deutsch-marokkanische Autorin, die 2021 mit «Die Götter müssen sterben» ihren ersten Roman bei einem grossen Verlag veröffentlicht hat. Lange habe sie sich als nichtweisse Person nicht willkommen gefühlt, sagt sie. Reizthemen wie Rassismus wollte man lieber nicht diskutieren: «In gewissen Onlineräumen schimpfte man dann gleich über Political Correctness oder haute das N-Wort raus, um Leute rauszuekeln.» Inzwischen aber sei eine deutliche Veränderung zum Besseren zu registrieren. Und: «Die Szene ist diverser, als man denkt.»

Auch Bendzko hat das Label der Progressiven Fantasy aufgegriffen, sie ist mit Sullivan und Vogt gut bekannt. Als die beiden ihren Aufruf veröffentlichten, war Bendzkos Verlagsdebüt zwar schon geschrieben, aber im Buch habe sich viel aus den Diskussionen niedergeschlagen, die man in diesem Kreis der Fantasyszene schon länger geführt habe. «Es geht dabei um ein Bewusstsein dafür, was das Genre wirklich alles kann», sagt die 28-Jährige. «Ich wollte beispielsweise immer gerne auch über Figuren of Color schreiben. Da hiess es früher dann immer, der hiesige Markt sei für so etwas nicht bereit.» Genau deswegen sei der Appell von Sullivan und Vogt wichtig: «Progressive Fantastik schert sich nicht um solche Vorbehalte. Es geht um eine radikale Offenheit.»

Radikal unverkrampft ist jedenfalls der Zugriff auf die antike Sagenwelt, den sich Bendzko in «Die Götter müssen sterben» gestattet. Der Roman ist eine temporeiche Neuaneignung des Amazonenmythos, erzählt aus Sicht der Kriegerinnen. Dieser Perspektivenwechsel ist effektvoll, gerade wenn man mit den populären Sagennacherzählungen Gustav Schwabs oder Auguste Lechners aufgewachsen ist: Figuren wie Theseus oder Herakles, die gerne mal auszogen, um Frauen zu rauben, erscheinen bei Bendzko nicht als strahlende Heroen, sondern als Repräsentanten ruchloser Männergewalt, die die Verhältnisse der mythologischen Welt überall prägen.

Mit Ausnahme des Amazonenreichs. In dem lupenreinen Matriarchat werden ja bekanntlich Kinder, sofern sie männlichen Geschlechts sind, nach der Geburt getötet. Bei Bendz­ko leben dort aber auch «Vielselige»: nonbinäre Personen, die weder nur Mann noch nur Frau sind. Zu deren Beschreibung nutzt sie in ihrem Buch Neopronomen, also sprachliche Innovationen wie «sier» oder «ihrm», die die grammatikalische Zweigeschlechtlichkeit aufsprengen sollen.

Blutige Orgien

Einen Namen machte sich Bendzko schon vor ein paar Jahren mit ihren «Galgenmärchen»: düstere Adaptionen der Geschichten der Brüder Grimm. Diese veröffentlichte sie im Eigenverlag online – und zwar mit solcher Resonanz, dass eine Agentur auf sie aufmerksam wurde und sie einen Buchvertrag erhielt. «Ich fand Amazonengeschichten immer schon faszinierend, gleichzeitig gab es nur so wenige davon. Das war der Impuls, aus dem heraus mein Buch entstanden ist», sagt Bendzko.

So erzählt sie nun in «Die Götter müssen sterben» davon, wie die einst in Athen zwangsverheiratete Areto gemeinsam mit der Amazonenkriegerin Clete, in die sie verliebt ist, nach Troja zieht. Dort will das Frauenheer unter Führung von Königin Penthesilea an den die Stadt belagernden Griechen und ­ihren Helden Rache nehmen. Doch schon lange bevor die Mauern der Stadt erreicht sind, werden reichlich Körper verstümmelt und Köpfe abgeschlagen: Bendzkos Schilderungen der Schlachten, in die sich ihre bisweilen von blanker Mordlust getriebenen Held:in­nen stürzen, sind stellenweise surreal anmutende Blut­orgien, etwa als es gegen den schmierigen Hirtengott Pan und dessen Lakaien geht. Feministische Selbstermächtigung mit der Streitaxt, wenn man so will.

Gegen Frauen gerichtete Männergewalt ist ein Leitmotiv von Bendzkos Roman. Während bei Sullivan eher die Humanität und die Sensibilität seiner Figuren ins Auge springen, ist es bei Bendzko die Rohheit einer Welt, in der die Schwachen unter die Räder geraten, derweil ihre Schlächter von Dichtern besungen werden. Umso schräger wirkt es da, dass Bendzko, wie sie erzählt, «aus allen politischen Richtungen» angekreidet wird, unbequeme Themen gar nicht mehr anfassen zu wollen: «Uns progressiven Fan­tast:in­nen wird dann vorgeworfen, wir würden unsere Texte bloss diversifizieren.» Ein wokes Utopia ist Penthesileas Reich aber gewiss nicht, auch bei den Amazonen gibt es beispielsweise Sklav:in­nen. Zartfühlende dürften zudem dort, wo Gedärme allzu explizit aus gemarterten Körpern quellen, zurückschrecken. Diese Welt ist alles andere als steril.