In Bauchhöhlen auf Sinnsuche Vielleicht wäre ein neues Verdauungsorgan der Ausweg? Mit seinem Körperdrama «Crimes of the Future» zieht David Cronenberg einmal mehr eine Bilanz seines Werks.

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Chirurgin Caprice (Léa ­Seydoux) und ihr ­Patient Saul Tenser (Viggo Mortensen) in David ­Cronenbergs Film «Crimes of the Future»
Chirurgin Caprice (Léa ­Seydoux) und ihr ­Patient Saul Tenser (Viggo Mortensen) in David ­Cronenbergs «Crimes of the Future» (2022). Foto: Nikos Nikolopoulos

Jeder Satz ein Programm. «Ich identifiziere mich mit den Parasiten», bekennt David Cronenberg in einem Kommentar zu einem seiner ersten Spielfilme, ­«Shivers» (1975). Darin muss sich ein Wohnblock voller braver Mittelstandspaare einer langsamen, aber aggressiven Invasion von mastdarmförmigen Parasiten ergeben, und die tödlich Infizierten werden dann zur Brutstätte für weitere Blutwürmer.

Seine Liebe zu solchen uncoolen Monsterviechern wie auch seine Weigerung, sich Gedanken zu machen, «ob eine Figur sympathisch ist oder nicht», hielten den 79-jährigen Kanadier zeitlebens auf Sicherheitsabstand zu Hollywood; Angebote, die Regie von «Top Gun» oder einer «Star Wars»-Episode zu übernehmen, lehnte er folgerichtig ab. Und als sein fast gleichaltriger Regiekollege Martin Scorsese – in mancherlei Hinsicht das pure katholische Gegenteil zum atheistischen Juden Cronenberg – einmal halb im Scherz meinte, Cronenberg verstehe die eigenen Filme wohl selber nicht, replizierte dieser knapp: «Hoffentlich nicht!»

Ein All im Bauch

Manchmal schummelt der Ironiker aus Toronto auch ein bisschen. Darauf angesprochen, dass sein bislang letzter Film gleich heisst wie eines seiner allerersten Werke, gab er zur Antwort, die beiden Filme hätten nichts gemeinsam ausser dem je passenden Titel: «Crimes of the Future». Wer das nicht ganz glauben mag, entdeckt im Experimentalfilm von 1970 allerdings einen direkten Verweis auf «Crimes of the Future» von 2022. Wir sind hier in einer von Cronenbergs sektenartigen Wissenschaftsinstitutionen, wo obskure Körper- und Seelenexperimente durchgeführt werden. Brachiale Physiotherapien treffen auf schaumartige Exkrete aus männlichen Brustwarzen und auf ein von unheimlichen Jüngern umgarntes kleines Mädchen, das sich als Wiedergeburt eines Gurus herausstellt. Mittendrin ein Mann, von dem die Erzählstimme berichtet, es wüchsen ihm laufend rätselhafte neue Organe. Diese werden herausoperiert und in Einmachgläsern aufbewahrt. Der Patient, so weiss der Erzähler, betrachte seinen Körper als Galaxie. Auf der Tonspur des Films mischen sich rätselhafte Klickgeräusche mit Tierschreien. Zum All im Bauch fügt sich so ein mechanischer Dschungel in unseren Ohren.

Operation am Körper mit Alien-Roboter-Operationsbesteck
Operationen sind der neue Sex: «Crimes of the Future» (2022).
Kopf mit mehreren angenähten Ohren
Er ist ganz Ohr. Body Art für Fortgeschrittene.

Gut fünfzig Jahre später ist dieser frühe Prototyp zur Hauptfigur im neuen «Crimes of the Future» geworden: Saul Tenser (Viggo Mortensen, einer von Cronenbergs Lieblingsdarstellern), dessen Nachname fast klingt wie «cancer», das englische Wort für Krebs. Auch Tenser wachsen ständig neue Organe mit unbekannter Funktion, die ihm seine Gefährtin Caprice (Léa Seydoux) im Rahmen von umschwärmten Kunstperformances wieder herausoperiert. In dieser minimal futuristischen, mehrheitlich schmerzunempfindlichen Gesellschaft sind chirurgische Eingriffe der neue Sex. Da ist es nur logisch, dass auch der «Inner Beauty Contest» als Wettbewerb um blutige Innereien und unter die Haut geritzte Ornamente ausgetragen wird. Innere Schönheit ist keine geistige Eigenschaft, keine Frage der Seele mehr. Tenser lässt sich dafür sogar einen reissverschlussartigen Zugang zu seiner Bauchhöhle einpassen, ein fixes Fenster zur pulsierenden Parallelwelt des eigenen Inneren – Body Art für Fortgeschrittene.

Angedacht hat Cronenberg das alles bereits in seinem gynäkologischen Zwillingsfilm «Dead Ringers» (1988). Überhaupt bilden seine beiden Körperdramen von 1970 und 2022 eine Klammer für sein ganzes Schaffen. So gebiert eine psychisch kranke Frau in «Brood» (1979) aus einer Gebärmutter ausserhalb ihres Körpers mordende Monsterkinder, die ihre bösen Gedanken verkörpern. Und in einem von Cronenbergs bekanntesten Filmen, «The Fly» (1986), verwandelt sich ein Wissenschaftler (Jeff Goldblum) nach einem Laborunfall in eine Fliege: langsam, qualvoll, zugleich ekstatisch. Auch er sammelt seine abgestorbenen Körperfragmente in Gläsern, als seien es kostbare Reliquien.

Plastik essen

Die Liste liesse sich fortsetzen, Cronenberg ist ein Meister des Selbstzitats. Es gibt nicht viele filmische Gesamtwerke mit einer derart dicht geflochtenen internen Verweisstruktur. Bis auf seine Literaturverfilmungen und die beiden Gewaltstudien «A History of Violence» (2005) und «Eastern Promises» (2007) weiss man auch ohne Titel und Vorspann in der Regel sofort, dass man in einem Cronenberg-Film gelandet ist – in der aktuellen Auflage von «Crimes of the Future» spätestens dann, als sich der herzige schwarz gelockte Bub, der eben noch am Strand im Kies stocherte, auf den Badezimmerboden hockt und mit weissem Schaum vor dem Mund den Plastikkübel neben dem WC anbeisst.

Kurz darauf ist er tot, im Schlaf erstickt von seiner Mutter, die es nicht aushalten wollte, dass sie in ihren Augen einen Freak geboren hat: ein Ding, keinen Menschen. Für seinen Vater dagegen war dieser Bub ein Wunderwesen, Prophet einer neuen Spezies mit einer genialen zusätzlichen Verdauungsfunktion: Wäre es nicht die Lösung, wenn der Mensch seinen Plastikmüll selber verdauen könnte?

Die Szene mit dem Bub zeigt, dass Cronenbergs kühne Grenzüberschreitungen keine oberflächlichen Thrills sind. Sie katapultieren uns in eine andere Ordnung des Sehens, wo gängige Moralvorstellungen ausser Kraft sind und das Subjekt immer wieder neu erfunden wird. Das macht Cronenberg zum Solitär und seine Filme zu einem Genre für sich – Vorbilder kennt er keine. Er wird aber selber zum Vorbild, etwa für Julia Ducournau, die mit «Titane» 2021 die Goldene Palme von Cannes gewann. Cronenbergs Arbeit sei Teil ihrer DNA, sagt sie.

Das Label «Body Horror», das ihm die Kritik gern anheftet, findet er selber ungenau. Körperhorror? Dagegen betont er wiederholt, dass es ihm nicht so sehr um Horror gehe als um eigenwillige, lustvolle Ekstasen, um eine bedingungslose Freiheit der Fantasie, die sich keiner Realität zu beugen hat. Man könnte auch sagen: um einen Sprung ins Unterbewusste, das Cronenberg jedoch konsequent körperlich und konsequent organisch denkt, psychorganisch halt. Statt Köpfe interessieren ihn Bauchhöhlen.

Verschwitzte Performance

Auch deshalb sind Cronenbergs Filme keine simplen Kommentare zur Gegenwart, erst recht keine politischen Statements – sie scheinen irgendwie aus der Zeit zu fallen. «Crimes of the Future», dieser quere, groteske, zuweilen nahe am Lächerlichen vorbeischrammende Film, der auf mancher Jahresbestenliste auftaucht, fand in der Schweiz nicht einmal mehr regulär ins Kino.

der Klinikdirektor in «Crimes of the Future» übt eine Kampfsportart aus
Klinikdirektor in David Cronenbergs «Crimes of the Future» (1970).
Gendertwist: Ein Mann mit lackierten Fingernägeln raucht eine Zigarette
Teilnehmende Beobachtung mit Gendertwist.

Gedreht wurde «Crimes of the Future» meist nachts in der Augusthitze Athens – sicher aus Kostengründen, aber nicht nur. Die leicht verschwitzten Kunstperformances im Film verweisen auf den alten Brauch der Eingeweideschau, der auch im antiken Griechenland verbreitet war. Aus den Innereien von frisch getöteten Opfertieren lasen die Priester am Altar die Zukunft. Auch bei Cronenberg sind die Organe prophetisch oder zumindest «juicy with meaning», wie die Zeremonienmeisterin Caprice lasziv doziert: Sie strotzen vor Bedeutung.

Cronenbergs allerneustes Werk ist kein Film, sondern der Schnappschuss einer Handvoll merkwürdig geformter Steine, den Cronenberg als digitales NFT-Bild zum Verkauf anbietet. Versteinerte Korallen, andere Meerwesen? Nein, der Titel «Inner Beauty» deutet es an: Es sind Cronenbergs Nierensteine. In einem schelmischen kleinen Text zu diesem Foto schreibt er: «Das letzte Wort hat die Kunst.» Diese Kunst besteht bei Cronenberg darin, Konventionen auf den Kopf zu stellen, das Innere nach aussen zu kehren, das Schöne im vermeintlich Hässlichen zu finden. Tatsächlich steckt ein befreiender Optimismus in einer Betrachtung der Welt aus der Perspektive eines Parasiten, einer Krebszelle, eines zusätzlichen Organs. Oder in der Schönheit eines schmerzhaften Nierensteins.