«Titane»: So schwer und doch so leicht
Julia Ducournau spielt in ihrem Film «Titane» mit dem Feuer und mit anderen gefährlichen Dingen. In Cannes gabs die Goldene Palme für dieses zärtliche Gewaltsmärchen über Geschlecht und Familienzugehörigkeit.
Bondagesex mit einem Cadillac? Eine gar nicht so abstruse Idee: dem maschinellen Stimulus des Antriebs ausgesetzt, festgegurtet ans Lederpolster gedrückt. Im Unterleib der Maschine läuft der Motor heiss, die inneren Explosionen treiben es an, das Ansaugen und Verdichten und Ausstossen, Kolben rauf, Kolben runter, erotische Mechanik, bis sich die Pupillen weiten wie schwarze, ins Glück schwappende Eidotter. Nur: Kann man davon schwanger werden?
Alexia, 32, hat gerade einen Mann getötet. Gekillt, wie es im Genre heissen muss, einen, der ihr nachgestellt hat nach der nächtlichen Autoshow, wo sie als Poledancerin gearbeitet hatte. Er wollte zuerst ein Autogramm, dann einen Kuss und mehr. Sie beendet den Übergriff mit der Haarnadel, die sie sich flugs aus dem Dutt zupft. Wer Alexia, gespielt von der erstaunlichen Agathe Rousselle* in ihrem Leinwanddebüt, zu nahe kommt, den lässt sie noch ein bisschen näher ran, bevor sie ihm auf ein letztes die Nadel ins Ohr rammt.
Brennstoff für Ideen
Das gilt im Übrigen nicht nur für Männer in diesem ersten Drittel von «Titane», dem zweiten Kinofilm von Julia Ducournau, ausgezeichnet mit der Goldenen Palme in Cannes. Wie in einem Gangsterrapvideo rasen wir mit der Protagonistin durchs Milieu von Sportautos, Neonlicht, Motorenporno. Seit einem schweren Autounfall in der Kindheit trägt Alexia ein Implantat am rechten Ohr, aus Titan – ein medizinischer Eingriff, der ihr anscheinend zu einer ungewöhnlichen Leidenschaft verhilft, vielleicht diese ungeheure Wut aufhalst. Und schon sind wir mitten in einem ganz normalen, brutalen, irgendwie abgedunkelten Science-Fiction-Krimi oder einem irgendwie ins 21. Jahrhundert geworfenen Grindhouse- oder Splatterfilm samt Pourquoi-Story, wo das Blut spritzt und es den Opfern aus den Mäulern schäumt, wo die Farben laut sind wie die Autos – nur dass die Hauptfigur eine Protagonistin ist und kein Typ. Damit ist das Nötigste getan, aber eine Goldene Palme von der Riviera gibts allein dafür noch nicht.
Ja, von Sex mit Autos kann man schwanger werden. Zumindest in der fantastischen Welt, die Julia Ducournau für «Titane» aufspannt. Zumindest Alexia mittendrin. Aber dieser Film wird gerade deshalb in Erinnerung bleiben, weil das am Ende ziemlich egal ist. Die Reminiszenzen an den Genrefilm, effektvoll gemacht – da spritzt das Motoröl aus den Brüsten der schwangeren Alexia, da brennt einiges runter, und man kann sich vorstellen, wie die Regisseurin, die nach ihrem Debüt «Grave» (2016) auch Angebote aus Hollywood abgelehnt hat, mit einem friedlichen Lächeln am französischen Actionset steht. Ist die dicke Post erst einmal deponiert, so scheint es, kann der erzählerische Geist aus all den aufgerissenen Wunden aufsteigen. Dann wächst der Film über sich selbst hinaus.
Die Serienmörderin Alexia, inzwischen auf der Flucht, mit gebrochener Nase und schmerzhaft abgebundenem Schwangerschaftsbauch, gerät in die dicken Arme eines Feuerwehrkommandanten. In stillem gegenseitigem Einverständnis nimmt der Patron, gespielt von Vincent Lindon, die Geflüchtete als seinen lange verschollenen Sohn in sein Feuerwehrkader auf. Und sie nimmt, stoisch schweigend, die fremde Identität als junger Mann an.
Spätestens im Zusammentreffen der beiden rollt die Erzählung ihre psychologisch-diskursive Bedeutungsebene aus – ein Feld der Möglichkeiten und der Imaginationen, aufgespannt rund um die Annäherung dieser zwei gewiss verrückten, aus der normativen Welt gefallenen Figuren. Und was man als Zuschauer:in also, je nach Vorliebe oder Hautdicke, bis dahin an körperlichem Horror zu schlucken oder zu schlecken hatte, erweist sich als der Brennstoff für ein ungemein schubkräftiges Ideengetriebe, eine künstliche Anlage, die sehr reale, sehr alltägliche Fragen aufwirft.
Die Körper sprechen
Was bin ich, mein Geschlecht zu verwandeln, aufzuführen? Kann ich, mit einem weiblich gelesenen Körper, auch ein verlorener Sohn sein? Was bedeutet ein absoluter Realitätsbegriff oder die Lüge, wenn das alles unter psychisch versehrten Menschen konsensual neu verhandelt werden kann? Und was zur Hölle ist eigentlich menschliche Liebe, zwischen Tod und Geburt, Gewalt und Zärtlichkeit? Okay, erst mal halblang – man müsste das Kunststück vollbringen, diesen Film nachzuerzählen, der selber mit so wenigen Worten auskommt. Und dieses Kunststück würde mit einem Genickbruch scheitern.
Denn «Titane» lässt radikal den Körper sprechen. Julia Ducournau nutzt beides, Ekel und Schönheit, Krampf und Tanz, sie bespielt Body Horror und Liebesdiskurs, um ein unendliches Bündel an Fragen nicht in den Griff zu bekommen, aber mindestens hoch aufzuwerfen. «Ich mag nicht, wenn es gratis ist», sagt die Regisseurin in einem Interview über ihre Verfahrensweise: «Sobald das Schaudern am Horror keinen Preis hat, wird ein Film zum Cartoon.» Selbstverständlich habe sie nichts gegen Cartoons, sagt sie, «aber daran glaube ich nicht, nicht für meine Filme».
Dem Schaudern etwas Hoffnungsvolles entgegensetzen und das Schöne im scheinbar Hässlichen erkennen, Bedeutungen transzendieren – auch die Filmmusik lässt sich in diesem Ethos verstehen: mal überspitzend mit bellendem Gabbercore, wenn die Feuerwehrkadetten ihr gleichzeitig heteronormatives und köstlich homoerotisches Tanzritual abhalten; mal unterlaufend, wenn Alexia im Blutrausch eine ganze Wohngemeinschaft absticht, dazu trabt Caterina Casellis «Nessuno mi può giudicare» («Niemand kann mich verurteilen»). Es ist bei maximaler Grausamkeit auch eine der komischsten Szenen des Films.
Natürlich hat Alexia einen schweren Stand, in ihrer Verwandlung und in ihrem Vordringen in die Sphäre der festen Regeln, wie sie von dem kleinen Feuerwehrbataillon unter dem Kommandanten vielfach verkörpert wird. Als sie dann als verlorener Sohn aufs Feuerwehrauto steigt, während ebendieser feuerpolizeiliche Bubenbund sein Fest feiert, passiert etwas Erstaunliches, eine Art Versöhnung mit dem alten Ich, mit der abgestreiften Poledancerin auf der Autoshow – und gleichzeitig die absolute Überwindung einer kulturell sexualisierten Rolle. Diese Szene sagt stolz: Geschlecht ist eine Performance. Und die schwitzigen Kadetten staunen nicht schlecht.
Grausam vollkommener Tanz
Julia Ducournau mag keine Cartoons drehen. Sie nutzt das Abstossende des Body Horror dazu, Distanz zu gewinnen, damit Fragen auf das «Normale» geschossen werden können. Und doch hängt sie ihre «Titane» am Ende in dicken Seilen an die himmelhohe Decke, die das verdammte Gewicht vom schwersten Leichtmetall der Welt zu tragen hat – die Erzählung, so fein und psychologisch sie gegen Ende ausgeführt wird, ist sicher von einer märchenhaften, vielleicht sogar mythologischen Qualität. Das Schwere und das Leichte gleichzeitig: Es geht um Leben und Tod, Familie, Mutter, Vater, Geschlecht, am wenigsten eigentlich um Sex. So, dass daraus kein individuelles dramatisches Beispiel, sondern ein Gleichnis wird. Man kann diese Auflösung von Sinn mögen oder nicht. Aber sie tradiert Hoffnung in zyklischer Vollendung, in der Symbolik von Feuer und Feuerwehr, Körpern und Körperlosen und im Schmerz als einem grausam vollkommenen Tanz.
Und das Auto? Es bleibt ein Rätsel in diesem Film. Irgendwie sonderbar, im Science-Fiction-Gestus eine so dreckige, ineffiziente und rückständige Maschine mit dem Menschen zu paaren – wobei, der Mensch.
«Titane» läuft jetzt im Kino.
«Grave» läuft im Rahmen von «Oh Body!» in: Bern Reitschule, Mi, 13.10.2021, 20.30 Uhr.
*Korrigendum vom 7. Oktober 2021: In der Printversion sowie in der ursprünglichen Onlineversion war der Name der Hauptdarstellerin fälschlicherweise als «Agathe Rousseau» angegeben.
Titane. Regie und Drehbuch: Julia Ducournau. Frankreich/Belgien 2021