Der Spielzeugelefant

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So viele Plastiksäcke, grosse, kleine, manche sind weiss, andere blau. Sie stapeln sich in langen Gestellreihen – wie in vielstöckigen Kajütenbetten: Es sind Leichensäcke. Darin, was von einer Person, die jahrelang unter der Erde lag, übrig bleibt: Knochen, manchmal ein Turnschuh, ein kleiner Plastikelefant. Frauen und Männer, sie arbeiten mit Handschuhen und Schutzanzügen, ziehen einen Sack heraus, leeren den Inhalt in eine Art Setzkasten, sortieren, arrangieren das Häufchen Mensch. Alles hat Nummern: Knochen, Säcke, Gestelle: A31, D1, LP2.

Mehr als 40 000 Menschen werden seit dem Balkankrieg noch immer vermisst, viele sind in den Wäldern verscharrt worden, Satellitenbilder helfen manchmal, ein Massengrab aufzuspüren. Von forensischen Anthropologinnen und Archäologen, die sie zu identifizieren versuchen, handelt der Dokumentarfilm «The DNA of Dignity» von Jan Baumgartner. Sie sind angewiesen auf Verwandte, die Blutproben zur Verfügung stellen, damit diese im Labor mit der aus den Knochen extrahierten DNA verglichen werden können. Und auf Einheimische, die Hinweise auf Orte liefern, wo die Toten vergraben wurden. Doch viele scheuen sich.

Besonders eindrücklich ist, wie Baumgartner die Geschichte einer Mutter, die namenlos bleibt, mit der Arbeit der Forensiker:innen verwoben hat. Man sieht sie zu Hause, beim Coiffeur, am Busbahnhof. «Sie fanden Teile von einem meiner Söhne, aber sie wussten nicht, von welchem», sagt sie zu Beginn. «Was sollte ich auf den Grabstein schreiben?» In der Leichenhalle erkennt sie den Plastikelefanten wieder, ein Geburtstagsgeschenk für ihren Jüngeren. «Jetzt habe ich einen Namen für den Grabstein.» In der letzten Einstellung des Films sitzt sie allein in einem abgedunkelten Restaurant und singt ein trauriges Lied in bosnischer Sprache, es wird nicht übersetzt.

Im Abspann wird enthüllt, dass die Figur der Mutter ein Konglomerat ist, zusammengesetzt aus wahren Geschichten, die dem Regisseur erzählt wurden. Solche Fiktionalisierungen sind legitim, gerade wenn es um den Schutz der Hinterbliebenen geht. Man kann sich aber fragen, warum diese Konstruktion nicht schon vorab offengelegt wird.

Filmstill aus dem Film «The DNA of Dignity»

«The DNA of Dignity». Regie: Jan Baumgartner. In: Solothurn, Landhaus, Sa, 21. Januar 2023, 14.30 Uhr, und Reithalle, Mo, 23. Januar 2023, 12 Uhr.