Nach den Massakern: Jeden Tag zehn Begräbnisse
Nachdem die russischen Truppen Ende März aus den Vororten von Kyjiw abgezogen waren, offenbarte sich die Grässlichkeit dieses Angriffskriegs in seiner ganzen Deutlichkeit. Ein Besuch in Butscha, wo kein Kriegsverbrechen vergessen werden und jedes Todesopfer ein würdiges Begräbnis erhalten soll.
Er kann nicht mehr schlafen, seit er in einem Dorf bei Butscha, einer Kleinstadt dreissig Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Kyjiw, die Leiche einer Sechsjährigen ausgraben musste. Sie ist im Keller ihres Hauses an Entkräftung gestorben, nachdem ihre Mutter durch eine Bombenexplosion getötet worden war. Nachbar:innen hatten das leblose Mädchen gefunden und im Hof des Gebäudes beerdigt, bis Eugene Wusik es zusammen mit einer Gruppe ukrainischer Freiwilliger ausgrub und in die Leichenhalle brachte.
Eugene Wusik ist ein korpulenter Vierzigjähriger mit blauen Augen und dem Gesicht eines Mannes, der seit längerer Zeit keinen Schlaf mehr findet. Am 4. April stellte er sich der örtlichen Polizei zur Verfügung, um aus Massengräbern die Leichen zu exhumieren, die während der russischen Besetzung im März beerdigt worden waren. Gemäss der ukrainischen Staatsanwaltschaft wurden in der Region Kyjiw bereits mehr als tausend Leichen entdeckt – in Massengräbern, auf Feldern, in Kellern, auf der Strasse.
Die letzten Tage der Besetzung
Auch am 30. April, dem Samstag, an dem wir Wusik begegnen, gibt es einen Fund. In einem Wald ist die Polizei auf drei Leichen gestossen. Behördenangaben zufolge weisen sie Spuren von Folter auf, sie wurden durch Genickschüsse getötet. Die ukrainische Staatsanwaltschaft wirft der russischen Armee Kriegsverbrechen vor, legt ihr die Tötung, Vergewaltigung und Folter von Zivilist:innen zur Last. Nicht ganz drei Wochen lang war Butscha unter Kontrolle der russischen Armee, bevor sie sich am 31. März aus dem Ort zurückzog. «Die letzten sechs Tage der Besetzung waren schrecklich; in dieser Zeit starben die meisten Menschen», sagt Wusik.
Am 4. April fand er die Leiche seines eigenen Bruders Denis auf einer Strasse. Beim Versuch, auf seinem Motorrad zu fliehen, war er an einem russischen Kontrollpunkt getötet worden. «Ich habe ihn am Motorrad und an seiner Kleidung erkannt, das Gesicht war entstellt», erzählt Wusik. Seit dem 28. Februar hatte er keine Nachrichten mehr von Denis erhalten. Das war der Moment, in dem er beschloss, sich der Freiwilligengruppe anzuschliessen. «Ich habe ein Auto und wollte mich nützlich machen», sagt Wusik. Etwa hundert Tote habe er seither bereits zur Leichenhalle in Butscha gebracht. «Fast alle wiesen Wunden durch Schüsse von Feuerwaffen auf», sagt er.
In den letzten Tagen der Besetzung hätten die russischen Soldaten Häuser geplündert und wahllos auf Zivilist:innen geschossen, berichten die Überlebenden von Butscha. «Jedes Mal, wenn man aus dem Haus ging, um nach etwas Essbarem zu suchen, musste man beten, nicht an einen russischen Kontrollposten zu geraten», erzählt Wusik, «denn man wusste nicht, was einem dann bevorstand.» Die Soldaten hätten etwa Handys kontrolliert und die Menschen – vor allem die Männer – gezwungen, sich auszuziehen, um Hinweise darauf zu finden, dass jemand die ukrainische Armee unterstütze.
Die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa gab diesen Sonntag bekannt, dass sie 9158 Anzeigen nachgeht: Alle betreffen mögliche Kriegsverbrechen in der Region Kyjiw, bei denen es zu «unmenschlichen Handlungen gegen die Zivilbevölkerung und anderen Verletzungen des internationalen Rechts» gekommen sei. 25 russische Soldaten, die dafür verantwortlich sein sollen, seien bereits identifiziert worden, so Wenediktowa.
Gemeinsame Suche nach Vermissten
Noch immer werden Leichen geborgen, auf Feldern, in Häusern oder Massengräbern. Sie werden in die Leichenhalle von Butscha gebracht und dort einer Autopsie unterzogen. Erst wenn sie identifiziert werden konnten, erfolgt die Beisetzung auf den Friedhöfen der Region. Eilig hat man dort Platz für neue Grabstätten schaffen müssen.
Auch Eugenia Obosinska und Maxim Dubowik haben sich einer Gruppe von Freiwilligen angeschlossen, die Polizei und Justizbehörden dabei unterstützen, die Toten zu identifizieren. Obosinska ist Apothekerin und seit einigen Wochen im Einsatz: Sie hilft bei der Suche nach Angehörigen der namenlosen Getöteten. Mindestens 25 sind es derzeit in der Leichenhalle von Butscha. Die Armee hat zwei Kühlwagen zur Verfügung gestellt, in denen die Toten in weissen Plastiksäcken gestapelt liegen.
«Es kommen Familien, die seit Wochen keine Nachrichten von einer verwandten Person haben», sagt Obosinska. «Wir nehmen jede Information über die Verschwundenen auf: jedes Detail, das uns helfen kann, ein Tattoo oder andere besondere Merkmale», erklärt sie. Die Freiwilligen haben auch verschiedene Telegram- und Facebook-Gruppen eingerichtet, in denen sie Informationen über vermisste Personen teilen. «Manchmal überkommt uns die Verzweiflung. Es scheint unmöglich, den Familien dabei zu helfen, die Leichen ihrer Lieben zu finden», erzählt die Apothekerin im Zelt vor der städtischen Leichenhalle, die zum Symbol für die Gräuel des Krieges geworden ist. «Aber gerade heute ist es uns wieder gelungen, vier Personen zu identifizieren.»
Gemacht werden die Autopsien von einem Team ukrainischer Gerichtsmediziner:innen, das von französischen Ärzt:innen unterstützt wird. Manche Leichen lassen sich nur schwer identifizieren: Sie befinden sich bereits in einem fortgeschrittenen Verwesungszustand, sind durch Artilleriegeschosse, Bomben oder Misshandlungen entstellt. Man habe den Beschluss gefasst, alle Toten von Butscha zu bergen und zu obduzieren, erklärt Sergei Kaplichni, der Leiter des städtischen Bestattungsamts. «Jeden Tag nach den Autopsien finden etwa zehn Begräbnisse statt», sagt Kaplichni.
Der einzige Trost
Vor dem Eingang der Leichenhalle von Butscha warten Personengruppen darauf, von den Ärzt:innen hereingerufen zu werden. Es sind Familien aus der ganzen Region, die hergekommen sind, um nach ihren Angehörigen zu suchen.
Tatiana Oleschinski, eine zierliche Frau um die fünfzig, weint. Soeben musste sie drinnen ihren Bruder Wassil identifizieren. Der 63-Jährige ist in Irpin gestorben, einer Kleinstadt gleich neben Butscha. Man hatte ihn zunächst in einem Massengrab beerdigt. Oleschinski hat sich von ihrer Schwägerin begleiten lassen, um hier von Wassil Abschied nehmen zu können, von dem sie seit dem 8. März nichts mehr gehört hatte. «Während der russischen Besetzung konnten wir nicht aus dem Haus, und ich wusste nicht, wo mein Bruder ist», erzählt Oleschinski unter Tränen. «Ich hoffte, er sei irgendwo in Sicherheit.»
Über das Freiwilligennetzwerk machte sie sich auf die Suche, und schliesslich fand sie ihn hier, in der Leichenhalle. Er war pensionierter Polizist, lebte allein. Nun wird ihm seine Schwester zumindest ein Begräbnis nach orthodoxem Ritus geben können. «Ihn würdig beerdigen zu können, das ist das Einzige, was mich jetzt noch tröstet», sagt Oleschinski.
Die Psychologin Anna Bilanenko ist hier, um Familien während der belastenden Prozeduren in der Leichenhalle zu betreuen. «Wenn es eine Hölle gibt, dann gleicht sie diesem Ort hier», sagt sie. «Die Erinnerungen an die russische Besetzung und die Folgen dieses Traumas werden noch lange in den Köpfen der Menschen bleiben.»
Aus dem Italienischen von Elke Mählmann.