Dreissig Jahre nach dem Genozid: Die Täter verstecken sich noch in der Nähe
Bis heute werden in Ruanda Massengräber gefunden, drei Jahrzehnte nach dem Völkermord von 1994. Oft treten dabei direkte Verbindungen zur Gegenwart zutage – und zum anhaltenden Krieg im angrenzenden Kongo.
Sobald die Männer ihre Spaten in die Erde stechen, riecht es nach Verwesung. «Hier ist wieder etwas», ruft einer und zeigt auf eine Kugel, an der schwarze Erde klebt. Ein Forensiker eilt herbei und bringt das Fundstück unter ein Zeltdach. Er platziert es auf einer Plane und entfernt mit vorsichtigen Pinselstrichen die Erde. Zum Vorschein kommt der Schädel eines Kindes.
«Ngoma-Rugero-Strasse Nr. 95» steht auf einem Schild an der Aussenwand des Hauses, neben dem rund ein Dutzend Männer am Graben sind. Es steht auf einem abschüssigen Grundstück, direkt neben einer frisch geteerten Überlandstrasse in Ngoma, einem Dorf in der Provinz Huye im Süden Ruandas. «Diese Leute leben auf einem Massengrab», sagt Theodat Siboyintore, der die Szene beobachtet, und schüttelt den Kopf. «Sie haben viel zu verbergen.»
Der 44-jährige, gross gewachsene Siboyintore ist der örtliche Vertreter der Organisation Ibuka (Kinyarwanda für «Erinnern»), eines landesweiten Selbsthilfeverbands für Überlebende des Genozids, der am 7. April 1994 in Ruanda seinen Lauf nahm (vgl. «Der Völkermord»). Gerade mal vierzehn Jahre alt war Siboyintore damals. An einer Strassensperrewurde er von seinen Eltern getrennt, bis heute weiss er nicht, wo ihre Leichen verscharrt wurden. Jedes Mal, wenn in der Gegend wieder ein Massengrab ausgehoben wird, muss er damit rechnen, dass darin die Gebeine seiner Verwandten zum Vorschein kommen.
12 000 «Wiesengerichte»
Über tausend Leichen, so die vorläufige Schätzung, wurden aus dem Massengrab geborgen, seit es im vergangenen Oktober entdeckt wurde. Exakte Zahlen wird es kaum je geben, denn gefunden werden meist nur einzelne Knochensplitter, Zähne, Schädel, Kiefer. Es ist praktisch unmöglich, die menschlichen Überreste eindeutig zuzuweisen. Daneben kommen Macheten, Messer, Spitzhacken zum Vorschein: die Tatwaffen.
Dreissig Jahre sind seit dem Völkermord an der Tutsi-Minderheit in Ruanda vergangen. Begangen hatten diesen nicht nur Militärs, Milizen, Polizisten und Beamte, sondern auch Zivilpersonen aus der Hutu-Bevölkerungsmehrheit. Und mit jedem neu gefundenen Grab erhöht sich die Gesamtzahl der bekannten Opfer; längst wird sie von den ruandischen Behörden auf über eine Million beziffert. Eine Million Menschen, die innert bloss hundert Tagen zwischen Anfang April und Ende Juli 1994 gejagt, abgeschlachtet und vergraben wurden.
Der Völkermord
Am 7. April 1994 nahm der ruandische Völkermord seinen Lauf, dem innert rund hundert Tagen über eine Million Menschen zum Opfer fielen. Schätzungsweise drei Viertel der Tutsi-Minderheit wurden ermordet. Die Täter:innen stammten aus der Hutu-Bevölkerungsmehrheit; neben Angehörigen von Armee, Milizen und anderen Sicherheitsorganen beteiligten sich auch Zivilpersonen.
Hutu und Tutsi waren einst Bezeichnungen für soziale Schichten, unter deutscher und belgischer Kolonialherrschaft wurden sie in Ruanda als rassifizierte Gruppen definiert. Dem Genozid ging ein Konflikt der Regierung mit der Tutsi-Rebellenarmee von Paul Kagame voraus. Dieser ist seit April 2000 Präsident Ruandas und regiert das Land sehr autoritär.
«Manche werden nur durch Zufall entdeckt, so wie hier», sagt Siboyintore und deutet zum Haus mit der Nummer 95. Der Eigentümer, der mittlerweile 86 Jahre alte Jean Baptiste Hishamunda, hat nach dem Genozid fast dreissig Jahre im Gefängnis verbracht. Auf Befehl von Angehörigen der damaligen Hutu-Armee errichtete er im April 1994 entlang der Überlandstrasse, direkt vor seinem Haus, eine Strassensperre, um flüchtende Tutsi aufzuhalten. Was bislang noch nicht bekannt war: Offenbar wurden die Menschen hier auch ermordet und auf Hishamundas Grundstück verscharrt.
Im vergangenen Jahr erst war Hishamunda aus der Haft entlassen worden, aufgrund seines Alters und gesundheitlicher Probleme. Zurück in Ngoma, vererbte er sein Grundstück an seine Tochter und deren Ehemann. Wo einst der Bananenhain war, begannen die beiden, ein Haus zu bauen. «Als sie die Erde aushoben, fanden sie Leichen, schütteten das Loch aber wieder zu», erzählt Siboyintore. «Die Nachbarn wurden darauf aufmerksam und riefen die Polizei.» Daraufhin wurden der alte Vater, seine Tochter und sein Schwiegersohn festgenommen – wegen Verschleierung von Informationen zum Völkermord, so der Straftatbestand. Sie befinden sich in Untersuchungshaft, ein Ermittlungsverfahren läuft.
Dass seit 1994 unzählige der damals hastig zugeschütteten Massengräber gefunden wurden, verdanken die Überlebenden zumeist den Täter:innen selbst. Anders als Hishamunda legten viele Geständnisse ab im Rahmen der sogenannten Gacaca-Laiengerichte, die zwischen 2002 und 2012 anstelle der damals praktisch zusammengebrochenen regulären Justiz die Verbrechen des Völkermords verhandelten.
12 000 traditionelle Gacaca-Gerichte, benannt nach einer ruandischen Grasart und deshalb auch «Wiesengerichte» genannt, bewältigten innert zehn Jahren fast zwei Millionen Fälle. Mehr als eine Million Täter:innen wurden dabei verurteilt. Sie mussten vor der versammelten Gemeinde ihre Taten gestehen, Massengräber zeigen und um Vergebung bitten. Nur so erhielten sie Strafmilderung und konnten etwa Sozialarbeit leisten, anstatt Haftstrafen in einem der überfüllten Gefängnisse zu verbüssen.
Flüchtige Täter:innen
Manche Befehlshaber des Völkermords sind hingegen bis heute auf der Flucht. Sie verliessen das Land, das bis Ende Juli 1994 praktisch vollständig von der Ruandischen Patriotischen Front (RPF), der Tutsi-Guerilla unter dem heutigen Präsidenten Paul Kagame, eingenommen worden war. Einige schafften es, sich in Europa, den USA, Kanada oder Australien zu verstecken. Noch immer suchen Ruandas Staatsanwält:innen weltweit nach über tausend flüchtigen Täter:innen. Die Zeit drängt, denn Täter und Zeuginnen werden älter, ihre Erinnerungen schwächer.
Die meisten der flüchtigen Täter, laut ruandischen Ermittler:innen sind es weit über 400, verstecken sich jedoch ganz in der Nähe, direkt hinter der Grenze zur Demokratischen Republik Kongo (DRK). In den dichten Wäldern gründeten sie nach dem Genozid die Hutu-Miliz FDLR (Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas) – mit dem Ziel, Ruanda zurückzuerobern. Darunter sind auch jene Militäroffiziere, die Hishamunda 1994 angewiesen hatten, eine Strassensperre zu errichten.
Einer der Hauptverantwortlichen für das Morden in der Gegend von Ngoma war Offizier Ildephonse Nzeyimana, der später zu einem hochrangigen FDLR-Mitglied wurde. 2009 wurde er in einem ugandischen Flüchtlingslager festgenommen und dem Internationalen Sondertribunal für Ruanda (ICTR) im tansanischen Arusha überstellt. Aus den Gerichtsunterlagen geht hervor, dass Nzeyimana Mitte April 1994 seine Untergebenen anwies, Strassensperren zu errichten; verantwortlich für die Umsetzung war demnach der damals dreissigjährige Unterleutnant Ezéchiel Gakwerere, der loszog, um lokale Hutu wie Jean Baptiste Hishamunda für die berüchtigten Interahamwe-Todesschwadronen zu rekrutieren. Gakwerere ist heute zweithöchster FDLR-Kommandant im kongolesischen Regenwald.
Die Grenze zur DRK, wo sich die FDLR seit Jahrzehnten verschanzt, verläuft westlich von Ngoma durch den Kivusee. Nördlich von diesem erheben sich die erloschenen Virunga-Vulkane, auf denen die seltenen Berggorillas leben.
In Ruanda herrscht heute Frieden, in der DRK tobt seit Jahrzehnten ein brutaler Krieg. Im Grenzgebiet wird aktuell heftig gekämpft. Beteiligt sind die FDLR und die kongolesischen Tutsi-Rebellen der M23 («Bewegung des 23. März», siehe WOZ Nr. 2/24). Die ruandische Armee unterstützt die M23 mit Ausrüstung und hat auch eigene Truppen entsandt, um die FDLR im kongolesischen Dschungel zu jagen. Das Ziel: Die letzten mutmasslichen Drahtzieher des Genozids sollen ausgeschaltet, die einfachen Kämpfer gefangen genommen und nach Ruanda gebracht werden.
Reuelose «Ikone»
Am Fuss der Vulkane schmiegen sich Backsteingebäude an einen Hang. Schon von weitem hört man das Geräusch eines Schweissgeräts. Auf den ersten Blick wirkt das Mutobo-Demobilisierungslager im Distrikt Musanze wie eine Berufsschule; in den Klassenzimmern lernen über hundert Männer, wie Autos repariert und Möbel gezimmert werden. Doch die Männer, die hier hämmern und schweissen, sind ehemalige FDLR-Kämpfer; sie sind nach Ruanda zurückgekehrt, um ein neues Leben zu beginnen. Manche sind unter achtzehn Jahre alt und gelten damit als Kindersoldaten.
Der heute 28-jährige Innocent Tuyibahe war einer von ihnen. In Jeans und Turnschuhen lernt er jetzt, wie man Kupplungen repariert. Tuyibahe ist in der FDLR aufgewachsen; seine Eltern waren nach dem Völkermord von Ruanda in die DRK geflohen, wo er geboren wurde. Von seinem 15. Lebensjahr an war er Leibwächter der höchsten Milizenführer: von General Pacifique Ntawunguka alias Omega und von dessen Stellvertreter, General Gakwerere.
Nach dem Unterricht sitzt Tuyibahe auf dem Fussballplatz des Mutobo-Camps. «Unsere Kommandanten haben uns immer weisgemacht, dass die Tutsi uns unsere Heimat weggenommen haben und dass wir Ruanda zurückerobern sollen, so sei es von Gott prophezeit», sagt er und spielt mit einem Ring an seinem Finger, in den ein Kreuz eingraviert ist. Der katholische Glaube und göttliche Prophezeiungen spielen eine wichtige Rolle bei der FDLR, fünfmal pro Tag würden die Kämpfer zum Gebet zusammengetrommelt, sagt Tuyibahe. «Sie predigen auch, dass wir von den Tutsi in Ruanda getötet würden, wenn wir kampflos nach Hause zurückkehrten.»
Bei Gefechten im Dezember sei ein Kamerad von den ruandischen Truppen gefasst und abgeführt worden, erzählt Tuyibahe. Von ihm habe er dann eine Textnachricht erhalten: «Was unsere Chefs uns predigen, ist alles nicht wahr», habe darin gestanden. General Gakwerere habe das SMS auf seinem Handy entdeckt. «Zur Strafe haben sie mich eine Nacht lang an ein Kreuz gebunden und mir 150 Peitschenhiebe verpasst», sagt Tuyibahe. Eine Nacht später sei er desertiert.
Der Exmilizionär bestätigt ohne Zögern, dass die genozidale Ideologie von 1994 in den Reihen der FDLR bis heute fortbesteht. Insbesondere General Gakwerere sei «absolut reuelos» und aufgrund seiner aktiven Beteiligung am Völkermord «eine Ikone», so Tuyibahe. Dann steht er auf, um mit seinen einstigen Mitkämpfern Fussball zu spielen.
Während die Auslöschungsfantasien bis heute weiterleben, schreitet die Aufarbeitung des Völkermords langsam voran. So auch in Ngoma: Die gefundenen Leichenteile sollen am 20. April bestattet werden, genau dreissig Jahre nachdem das Morden in der Region begann. Beerdigt werden sie auf dem Gelände einer Gedenkstätte, die rund 800 Meter weiter oben auf dem Hügel liegt. Dort wurde einst ein weiteres Massengrab gefunden, für das gemäss Gerichtsakten FDLR-General Ezéchiel Gakwerere verantwortlich ist.
Wie jedes Mal, wenn ein neues Massengrab entdeckt werde, habe auch der neuerliche Fund in Ngoma alte Streitigkeiten aufkochen lassen, sagt Theodat Siboyintore vom Überlebendenverband Ibuka. Der 44-Jährige kommt zum Schluss: «Bis zur Versöhnung ist es noch ein langer Weg.»