Foto-«wobei»: Erinnerungsorte in der Landschaft des Vergessens: Der Essay

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Der Schweizer Fotograf und WOZ-Mitarbeiter Florian Bachmann stellt einen Zyklus von Fotografien vor, den er «Lieux de mémoire» nennt. Dieser Titel macht die Erinnerungsforscherin hellhörig. Mir fällt dabei der Name Pierre Nora ein. Der französische Historiker hat Ende der siebziger Jahre mit einem Projekt begonnen, das er ebenso genannt und mithilfe zahlreicher Kolleg:innen in sieben Bänden zwischen 1984 und 1992 publiziert hat. Die überwältigende Resonanz der französischen Erinnerungsorte zeigte sich nicht nur in hohen Auflagenzahlen, sondern auch in Nachfolgeprojekten in vielen Ländern.

Geschichte traf plötzlich auf allgemeines Interesse und war mit ganz neuen Herausforderungen und Aufgaben verbunden. Was hatte Nora mit seinem innovativen Projekt der «Lieux de mémoire» losgetreten? Etwas, das die Historiker:innen vor ihm völlig aus dem Blick verloren hatten: dass die Geschichte, obwohl sie irreversibel abgelaufen ist, nicht in Gänze vergangen und abgeschlossen ist, sondern auf verschiedenen Wegen noch in die Gegenwart hineinreicht und auch die Zukunft beeinflusst. Mit dieser Einsicht begann eine neue Erinnerungsforschung.

Ein Grund für unerwartete Relevanz historischer Themen und Ereignisse lag in der Erkenntnis, dass Nationen eine (oder mehrere) Geschichte(n) haben, die die heutigen Bürger:innen noch etwas angehen, weil die Erinnerung daran die Auseinandersetzung mit der Geschichte stärkt und eine Diskussion über die Identität der Bewohner:innen anstösst. Nora hat den Franzosen und Französinnen aber kein einheitliches nationales Narrativ, sondern nationale Erinnerungsorte angeboten. Ein Katalog von Orten ist automatisch pluralistisch. Dieses Inventar kann gesellschaftlich diskutiert, kritisiert, auch immer wieder ausgetauscht und erweitert werden, was angesichts der zunehmenden Diversität in der Gesellschaft auch zu erwarten ist.

Die Schweiz hat sich ebenfalls an diesem von Frankreich ausgehenden Gedächtnishype beteiligt. Der Historiker Georg Kreis hat einen Band mit dem Titel «Schweizer Erinnerungsorte. Aus dem Speicher der Swissness» zusammengestellt. In 26 Essays werden die Schweizer Erinnerungsorte – vom Rütli über Heidi bis zum Soldatenmesser und zur Swatch – als gemeinsames Erinnerungsgut zwischen Geschichte, Kultur und Politik vorgestellt. Dabei ist entscheidend, dass solche Sammlungen von Mythen, historischen Gemeinplätzen und Referenzorten ein gemeinsames Gut sind, das allgemein zugänglich ist und auf das sich alle beziehen können.

Was unterscheidet nun Florian Bachmanns mit «Lieux de mémoire» überschriebene Fotografien von den Gemeinplätzen von Pierre Nora oder Georg Kreis? Die Antwort ist: Alles! Um das genauer zu erklären, versuche ich es mit einer zweiten Annäherung über Cicero.

Mit doppelter Erinnerungskraft

Was wir jeweils unter «Orten» verstehen, kann sich offenbar stark voneinander unterscheiden. Bei Nora sind es im Grunde «Gemeinplätze» (Loci communes) und damit Vorstellungen im Kopf, die Menschen miteinander teilen. Auch Cicero hat sich für diese «Loci» im Kopf interessiert, weil er sie im Rahmen des Auswendiglernens als wichtige Stützen des Gedächtnisses erkannte. Er war aber auch derjenige, der als Erster die an konkreten Orten gespeicherte Erinnerung empirisch untersucht hat. Seine Einsicht hat er in der Überzeugung zusammengefasst: «Gross ist die Erinnerungskraft, die Orten innewohnt.»

Orte haben genau genommen eine doppelte Erinnerungskraft: Es gibt erstens eine besondere Allianz zwischen Ort und Gedächtnis, wenn man sich zum Beispiel bestimmte zu memorierende Inhalte mithilfe einer räumlichen Anordnung vergegenwärtigt. Sie sind zweitens eine Stütze für das, was Menschen an konkreten Orten sinnlich erlebt haben. Eine Begehung vor Ort vermittelt einen tieferen Eindruck als eine blosse Lektüre. An Orten machen sich Eindrücke fest und bleiben in der Erinnerung haften. Das gilt insbesondere für leidvolle und traumatische Erinnerungen, bezogen auf Schlachtfelder oder Konzentrationslager, aber auch für positive Erinnerungen, die ihre sinnliche Kraft zurückgewinnen, wenn man an den Ort eines Geschehens zurückkehrt. Diese Einsichten hat der Historiker Karl Schlögel zusammengefasst, als er schrieb: «All unser Wissen von Geschichte haftet an Orten. […] Wir kommen ohne Bilder von Schauplätzen, an denen sich alles ereignet hat, nicht aus. History takes place – Geschichte findet statt.»

Geschichte versinkt also nicht vollkommen in eine unsichtbare Vergangenheit, sondern schlägt sich nieder an Plätzen und ergreift Orte, die durch Denkmale oder durch die Markierung von Spuren in die Gegenwart hineinwirken, wenn sie zum Gegenstand von Symbolsetzungen und Narrativen werden und zur Schau gestellt werden. Wenn jedoch die Erinnerungskraft dieser geschichts-, erfahrungs- und gedächtnisträchtigen Orte gelöscht oder überschrieben wird, haben wir es mit den sogenannten Nicht-Orten («non-lieux», wie Marc Augé sie nennt) wie Parkplätzen, internationalen Flughäfen, Hotel- und Bistroketten zu tun. In ihnen ist die jeweils lokale Physiognomie absichtlich ausgelöscht, damit wir uns, um es etwas zynisch zu formulieren, überall zu Hause fühlen können.

Gut versteckt an der Oberfläche

Das ungeschriebene Gesetz, das uns Menschen durch den Tag, die Woche und Jahre, kurz: durch das Leben treibt, lautet: Nicht stehen bleiben, weitergehen! Was auch immer vor uns auftaucht, es verweilt nicht, denn es wird umgehend von Neuem verdrängt und ist gleich wieder entschwunden. Was also bleibt? Nichts als ein blasser Nachklang in der Erinnerung und das selbstverständliche Meer des Vergessens, in den die Ströme unserer Erinnerung münden.

Einer solchen Haltung gegenüber bezieht Florian Bachmann mit seinen Fotografien Position. Er nimmt sich dabei die Einstellung von Ludwig Wittgenstein zum Vorbild und entwickelt seine ureigene Praxis der Achtsamkeit: «Wo andere weitergehen, bleibe ich stehen.»

Seine persönliche Unterbrechung des Zeitstroms beginnt mit einer Intuition: Hier hat einmal etwas stattgefunden, und die Orte halten es noch fest. Sehen können es freilich nur die, die davon wissen. Der Künstler sammelt solche Orte und zeigt sie als seine eigene Edition der Schweizer Erinnerungsorte. Er verhält sich dabei wie ein Fremdenführer, der seine Mitmenschen durch eine Landschaft des Vergessens führt, die er unmerklich in einen Erinnerungspark eigener Prägung verwandelt. Mit seinen Bildern schreibt er eine andere Schweizer Geschichte, die dem Alltag, dem Zufall und vor allem dem Merkwürdigen gewidmet ist. Was merkwürdig ist, liegt ausschliesslich in der Entscheidung und der Sensibilität des Künstlers. Er hat die Wünschelrute in der Hand, arbeitet im Jenseits des Bekannten und Auffälligen: Er vollzieht mit seinen Fotografien das Wunder der Verwandlung vom Vergessen ins Erinnern.

Was zeigt er uns? Dass es hinter der Geschichte noch andere Geschichten gibt, aus denen sich die Welt und die Geschicke der Menschen zusammensetzen. Man kennt sie nicht und erzählt sie sich nicht, aber es gibt sie, und sie können entdeckt, aufgerufen und kommuniziert werden. Die Bilder von Florian Bachmann sind menschenleer, die Orte, die er aufsucht, sind gottverlassen. Die Strenge und die Kargheit der Schwarzweissfotografien heben Strukturen und eine abstrakte Komposition hervor. Was insgesamt auffällt, ist die Unauffälligkeit, die Gewöhnlichkeit des jeweiligen Motivs: zwei Haustüren, ein paar Häuser, ein Büschel Gras, der Eingang zu einem Tunnel, Ansichten von Oberflächen und vor allem Gestein. Diese Lieux de mémoire liegen auf der Oberfläche. Dort sind sie gut versteckt und müssen entdeckt werden. Nicht durch Graben und Schürfen vor Ort, sondern durch Graben und Schürfen im Archiv.

Jedes Bild enthält die Botschaft: Wo andere weitergegangen sind, dahin komme ich noch mal zurück – als Fotograf. In die Vergangenheit kann niemand mehr zurückkehren, an Orte schon. Das ist ihr Vorteil. Orte halten Vergangenheit fest und sind noch einmal begehbar. Ins Bild allerdings lässt sich die Geschichte nicht setzen; die Fotografien können nur auf etwas zeigen, was in der Legende des Bildes mitgeteilt wird. Die Vergangenheit, die im Bild eingeschlossen bleibt, wird erst durch den «Auslöser» seiner Geschichte sichtbar und kommunizierbar. Der Fotograf arbeitet dabei als Kriminalist und Ermittler. Sein Auge ist bereits informiert, wenn er einen Ort aufsucht; er weiss, wonach er sucht und wo er etwas festhalten und zeigen kann.

Für die Betrachter:innen seiner Bilder gilt das genaue Gegenteil. Sie haben die optische Evidenz des Bildes vor Augen und suchen nach der Geschichte, in die sie sich dann mithilfe der Legende vertiefen.

Die Kultur- und Gedächtnisforscherin Aleida Assmann, geboren 1947, ist emeritierte Professorin für Anglistik und Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz.