Literatur: Professor Marx und seine Wunderpille

Nr. 7 –

Vor dem Hintergrund der historischen Pharmatests in der DDR entfaltet Yvonne Zitzmann in ihrem ersten Roman ein dubioses Experiment in einer Traumaklinik. Sehr behutsam, doch letztlich zu reisserisch.

Yvonne Zitzmanns Roman spielt auf einem Zauberberg der anderen Art. Foto: Kerstin Weinert

Zwischen 1964 und 1990 florierte ein kleiner Grenzverkehr zwischen Kliniken in der DDR und den grossen Pharmafirmen der Bundesrepublik und der Schweiz. Unter Umgehung der im eigenen Land geltenden Regeln bot sich die DDR als Labor für die Erprobung neuer Medikamente an. Im Lauf der rund 25 Jahre fanden zwar nicht dramatische Menschenversuche statt, wie nach der Wende ursprünglich angenommen und skandalisiert, doch der Deal sicherte den Unternehmen einen reibungslosen Testmarkt und der DDR neben Devisen auch Know-how und dringend benötigte klinische Ausstattung.

Diesen historischen Hintergrund ruft Yvonne Zitzmann in einer Nachbemerkung auf, um ihr Romandebüt «Tage des Vergessens» einzubetten. Aber anders als bei der damaligen Ostforschung geht es bei ihr tatsächlich um kriminelle Experimente mit traumatisierten Menschen. Die Geschichte spielt innerhalb einer Woche, und angesiedelt ist der Roman in der Gegenwart, auf einem Zauberberg der anderen Art. In der Klinik von Professor Marx wird eine Pille für gezieltes Vergessen entwickelt, die von dem dafür angeheuerten Psychologen Marian Wechsler an Proband:innen getestet werden soll. Wechsler, angetrieben von der Erinnerung an seine demente Grossmutter und von seiner Frau bestärkt, übernimmt trotz Bedenken den Job und begleitet eine Woche lang ein halbes Dutzend Freiwillige, die ihre Geschichte zu Protokoll geben. Es geht darum, den «entscheidenden Augenblick» auszumachen, der den Schmerz hervorruft, an dem der Wirkstoff andocken kann.

Lauter alte Wunden

Die im Lauf des ersten Tages auf Tonband aufgezeichneten Schicksale könnten unterschiedlicher nicht sein. Da gibt es die einst gefeierte, jetzt aber von Bühnenangst geplagte Sängerin Ulla, die ihre «alten Lieder» vergessen will, die sie einst berühmt gemacht hatten. Anton ist traumatisiert von einer Begebenheit im Konzentrationslager, wo er einem Mitgefangenen die Mütze geklaut und dessen Tod mitverantwortet hat. Malek hat bei einem Raketenangriff auf ein syrisches Wüstendorf seine Familie verloren, während Helmut seinem verlorenen Land, der DDR, derart nachtrauert, dass er es lieber vergessen will. Die Cellistin Ania wiederum hat sich nach einer Vergewaltigung völlig zurückgezogen. Joachim und Sabine dagegen möchten gerne einen Seitensprung Joachims vergessen machen, um ihre Ehe zu retten. Nur der zehnjährige Ole, der seine Mutter verloren hat, darf nicht an dem Versuch teilnehmen – so viel Verantwortung muss sein.

Während die Geschichten der Versuchspersonen in den folgenden Tagen immer weiter aufgerollt werden, offenbaren sich in den Gesprächen zwischen Marx und Wechsler plakativ die weitergehenden Ziele, die der Professor mit seiner Wunderpille verfolgt. Bald könne jeder, erklärt er dem Mitarbeiter, seine eigene Geschichte neu schreiben, ein unbeschwertes Leben führen: «Wir machen die Welt erträglich, und Sie sind als erster dabei, wenn die Köpfe neu gemacht werden.» Wechsler dagegen findet Gefallen an seiner Rolle als «Geschichtendieb»: «Bevor die Menschen ihre Erinnerungen vergessen würden, würden sie sie mir noch erzählen» – in Fällen wie Ania sogar ihm als Einzigem.

Im falschen Leben

Nach und nach entfalten die Pillen ihre Wirkung und provozieren unterschiedliche, teils krisenhafte Situationen. Während Ulla anfängt, neue Lieder zu schreiben, quartiert sich Anton in der Klinik zum Sterben ein – immer noch im Besitz der gestohlenen Mütze, wähnt er sich im falschen Leben. Helmut will aus dem Experiment aussteigen, seine Frau Gisela fürchtet, dass das Medikament seine Persönlichkeit völlig verändern könnte. Am Ende verliebt sich Ania auch noch in Joachim, und Malek muss eine Entscheidung treffen. In der Zwischenzeit erfährt der zunehmend zweifelnde Wechsler, dem seine Proband:innen ans Herz wachsen, dass zwei von ihnen nur ein Placebo verabreicht bekommen.

Sehr behutsam entfaltet Zitzmann diese Schicksale. Die 1976 geborene Autorin umkreist die Motivationen und die Handlungen ihrer Figuren, verleiht ihnen sehr unterschiedliche Stimmen und Redeweisen, sodass sie im Lauf der sieben Tage, die natürlich an die Schöpfungsgeschichte erinnern, plastisch werden. Alle sechs werden verfolgt von traumatischen Erlebnissen, die Wechsler objektiv zu «wiegen» versucht, die jedoch jedes für sich für die jeweils Betroffenen «die Hölle» darstellen.

Glücklicherweise entgeht die Autorin dabei der Versuchung, die lange Reihe von Erinnerungstheorien aufzurufen, von Maurice Halbwachs über Marc Bloch bis zu Aleida Assmann. Leider aber erliegt sie dem Reiz des Reisserischen. Der Wissenschaftsskandal, der auch im Roman mit den inzwischen gut erforschten Medikamententests im Osten in Analogie gebracht wird, kommt viel zu explizit daher – insbesondere in den Gesprächen zwischen Marx und Wechsler und mit den Vertretern der Pharmaindustrie. Die Figur des Professors ist überzeichnet, und der doppelte Plot wirkt zuletzt konstruiert. So bleibt am Ende die Einsicht, dass, «selbst wenn du dein ganzes Leben vergisst, der Rest der Welt davon unberührt bleibt».

Yvonne Zitzmann: Tage des Vergessens. Roman. Müry Salzmann Verlag. Salzburg/Wien 2021. 281 Seiten. 34 Franken