Mehrweggedächtnis: In den Untiefen einer deutschen Debatte

Nr. 14 –

Warum der Ruf nach einem Zusammendenken von historischen Verbrechen in Deutschland zu einer aufgeregten Diskussion über Antisemitismus und Israel führt. Und was das mit den Benin-Bronzen im Berliner Humboldt-Forum zu tun hat.

Anfang März kommt ein Buch mit zwölfjähriger Verspätung in deutscher Übersetzung auf den Markt – und wird zum aktuellen Kommentar in einer laufenden Debatte. Es trägt den etwas sperrigen Titel «Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonialisierung», und der US-Literaturwissenschaftler und Gedächtnisforscher Michael Rothberg entwickelt darin auf 400 Seiten die These, dass man die Erinnerung an verschiedene historische Gewaltverbrechen wirksam zusammendenken könnte. Er begründet das auch historisch: Die öffentliche Wahrnehmung des Holocaust verläuft in der Nachkriegszeit parallel zur Verarbeitung kolonialer Hinterlassenschaften.

Schon Hannah Arendt hat auf koloniale Bezüge von Naziverbrechen verwiesen. Erinnerung sei inklusiv, multidirektional, in Teilen auch überlappend zu begreifen. Rothberg geht es dabei weder um eine Konkurrenz noch um eine Hierarchie der Verbrechen. Oder wie er im Interview mit der «Zeit» betont: Es gelte, Gemeinsamkeiten zu untersuchen – «etwa, wie Feindgruppen definiert werden oder welche Rolle Bürokratien bei Massenmorden spielen» –, aber auch die Unterschiede. Und: «Erinnerung findet immer in der Gegenwart statt.»

In den deutschen Medien, die das Buch fleissig besprechen, lobt man zwar Rothbergs Anliegen im Ansatz, bleibt in der Bilanz aber skeptisch. So wie Claudius Seidl in der «FAZ am Sonntag»: «Man bewohnt jedenfalls als Deutscher einen gemeinsamen Geschichts- und Erinnerungsraum mit den Nachkommen der Opfer und Überlebenden. Und daraus ergeben sich Verbindlichkeiten, die mit dem Hinweis auf multidirektionale Erinnerungen nicht erledigt oder suspendiert sind.» Der «Spiegel» wirft die Frage auf, ob Erinnerung nicht notwendigerweise «provinziell» funktioniere, gebunden sei an konkrete Orte, Familiengeschichten, Erfahrungen.

Die Kritik zielt also weniger auf Rothbergs Thesen selbst als auf deren – vermutete – Konsequenzen für den deutschen «Geschichts- und Erinnerungsraum». Zu dieser deutschen Erinnerungskultur gehört allerdings auch, dass man sich selbst als «Erinnerungsweltmeister» brüstet – und den heute lebenden Jüdinnen und Juden sowie anderen Minderheiten die Rolle zuweist, die «Wiedergutwerdung der Deutschen zu bestätigen». So brachte es Max Czollek 2018 in seinem Essay «Desintegriert euch!» furios auf den Punkt.

Holocaust als «Trennungswahn»

In fast allen Rezensionen zu Rothbergs Buch wird zur Untermalung der Kritik eine Debatte erwähnt, die letztes Jahr in Deutschland heftig wütete: der Streit um einen der weltweit wichtigsten Theoretiker von Race und kolonialer Gewalt, Achille Mbembe. Der in Johannesburg lehrende Kameruner Historiker hätte im August 2020 zur Eröffnung der Ruhr-Triennale den Festvortrag halten sollen. Doch bereits kurz nach der Ankündigung wurde seine Ausladung gefordert. Mit Verweis auf ein paar isoliert zitierte Sätze aus Mbembes Schriften machte ein nordrhein-westfälischer FDP-Politiker, unterstützt von rechten Medien und vom Antisemitismusbeauftragten des Bundes, geltend, der postkoloniale Theoretiker Mbembe vertrete antisemitische Positionen und habe den Holocaust relativiert.

Unter dem Titel «Das Gespenst des Vergleichs» hat Rothberg den Geschwister-Scholl-Preisträger gegen diese Vorwürfe verteidigt: Mbembe habe die Apartheid in Südafrika mit der Besetzung der Palästinensergebiete verglichen, schreibt Rothberg, woraus man jedoch keinen Antisemitismus ableiten könne. Und er zitiert einen weiteren Satz Mbembes als Beleg dafür, dass dieser gerade nicht relativiere, sondern vielmehr differenziere: «Das Apartheidregime in Südafrika und – in einer ganz anderen Grössenordnung und in einem anderen Kontext – die Vernichtung der europäischen Juden sind zwei emblematische Manifestationen [eines] Trennungswahns.»

Rothbergs Verteidigung in Ehren: Derlei lose Zusammenführungen von südafrikanischem Apartheidregime, Besetzung der Palästinensergebiete und Holocaust unter dem sehr allgemeinen Begriff «Trennungswahn» offenbaren eine Unschärfe von Mbembes Denken, die es seinen GegnerInnen einfach macht, ihn anzugreifen. Aber warum deswegen gleich nach Ausladung und Ächtung rufen? Ebenfalls nicht unwichtig sind die unterschiedlichen Sprechpositionen – und Erinnerungsräume: die deutschen Nachgeborenen der NS-Geschichte; der im einstigen Apartheidstaat Südafrika lehrende Schwarze Kolonialhistoriker Mbembe; der jüdisch-amerikanische Literaturwissenschaftler Rothberg, der die Perspektiven erweitern will.

Die Triennale wurde wegen der Coronakrise abgesagt. Ob Mbembe am Ende tatsächlich ausgeladen worden wäre, blieb also offen. Die aufgeregte Diskussion ging trotzdem weiter – und liefert nun den anhaltend beissenden Pulverdampf zu Rothbergs dezidiert unaufgeregtem, zwölf Jahre altem Buch, in dem er nicht nur historisch argumentiert, sondern auch untersucht, wie Erinnerungen über die Generationen hinweg in Denkbildern und Geschichten überwintern und immer wieder neu interpretiert werden.

Die Definition wird zur Waffe

PublizistInnen wie Thierry Chervel von der Feuilletonplattform perlentaucher.de erklärten Mbembe und Rothberg zu Protagonisten in einem Clash, den sie als «Zweiten Historikerstreit» bezeichnen. Zur Erinnerung: 1986, beim «Ersten Historikerstreit», lancierten rechte deutsche Historiker um Ernst Nolte eine Debatte über Ursprünge und historische Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. Noltes Behauptung: Noch vor Auschwitz habe es den Gulag gegeben, die nationalsozialistische Vernichtungspolitik sei also eine Reaktion auf sowjetische Verbrechen gewesen. Diese These wurde in lauten öffentlichen Auseinandersetzungen als unhaltbare Geschichtsfälschung eingeordnet – und die Singularität des Holocaust somit in der nationalen Identität festgeschrieben.

Mit Verweis auf Mbembe und Rothberg behaupten nun Chervel und andere, heute seien es «Linke, die den Blick auf den Holocaust abschwächen wollen». Der «Impuls der postkolonialen Ideologie» sei vergleichbar mit «dem, der einst Ernst Nolte trieb». Ein weiterer Vorwurf: Die Linken würden Israel undifferenziert als kolonialen Besatzer im Nahen Osten verunglimpfen. Es geht also um den Stellenwert des Holocaust im Gefüge der Erinnerung und der historischen Interpretation – und um den Vorwurf einer Relativierung. Etwas spezifischer auch um die Unterstellung, dass der Holocaust durch eine erweiterte Beschäftigung mit anderen Verbrechen – etwa mit kolonialen Untaten – «abgeschwächt» werden könnte. Nur: Wie liesse sich eine solche Abschwächung – oder ihr Ausbleiben – dingfest machen? Und: Wäre das wirklich dasselbe wie die klar revisionistisch motivierte Schuldverdrehung im Ersten Historikerstreit? Dient ein Vergleich zwangsläufig einer Entlastung?

In einem Beitrag für die Zeitschrift «Merkur» entwirrt die renommierte deutsche Gedächtnisforscherin Aleida Assmann im Januar virtuos die Fäden. Für sie hat die Rede von einem Zweiten Historikerstreit und der Wirbel um die Ruhr-Triennale ihren Auslöser weniger in den Theorien von Mbembe oder Rothberg. Assmann sieht diesen Auslöser vielmehr in einer neuen Antisemitismusdefinition versteckt, die heute in Deutschland wirkmächtig sei – gerade auch im Bundestag und in den Landesparlamenten.

31 Länder, darunter Deutschland, richten sich seit 2017 nach einer offiziellen Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance. Sie enthält den Zusatz: «Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden.» Wie nun Assmann mit detektivischem Spürsinn aufzeigt, ist in Deutschland heute eine verkürzte Version dieser Definition im Umlauf, es fehlt der zweite, differenzierende Satz.

Jede Israelkritik kann damit unterschiedslos als antisemitisch eingestuft werden. Dadurch gerät namentlich auch die kontroverse Israel-Boykott-Bewegung BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) pauschal unter Antisemitismusverdacht. Zwischen Mbembe und BDS gibt es Berührungspunkte: Er hat bei einem israelkritischen Sammelband mitgeschrieben, dessen Erlös an die Bewegung gespendet wurde. Und er war auch an akademischen Boykotten beteiligt, die an südafrikanischen Universitäten, an denen man sich wegen der Apartheidgeschichte gegen die israelische Siedlungspolitik verbündet, verbreitet sind.

Die kürzlich lancierte «Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus» kommt zum selben Schluss wie Assmann. Oder wie Mitunterzeichner Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, in der «taz» erklärt: Die «Diskussion um Israel und die Diskussion über Antisemitismus» sei wieder «in rationaleres Fahrwasser» zu führen. Dazu müsse man sie «ein Stück voneinander trennen». Ob ein BDS-Unterstützer oder eine Israelkritikerin antisemitisch ist, kann nicht pauschal, sondern nur fallweise bestimmt werden. Wer Israel das Existenzrecht abspricht, ist antisemitisch. Eine ahistorische Kritik an Israel als Kolonialmacht im Nahen Osten greift zu kurz. Und sicher sollte penibel darauf geachtet werden, ob Israel härter kritisiert wird als andere Länder. «Die Identität der Deutschen ist von der Judenvernichtung, die von Nazideutschland ausgegangen ist, nicht abzulösen. Die historische Verantwortung für dieses Menschheitsverbrechen ist mit einer besonderen Verantwortung für den Staat Israel verbunden.» So hält es Assmann gleich zu Beginn ihres Artikels programmatisch fest.

Im Zeichen ebendieser Verantwortung plädiert Assmann fürs Solidarisieren statt Polarisieren: Gerade weil die antisemitische Bedrohung auch heute sehr real sei, dürfe sich die Gesellschaft nicht mit der «Waffe der neuen Antisemitismus-Definition» spalten lassen, sondern müsse sich mit allen Opfern von Antisemitismus, Rassismus und Islamophobie solidarisieren. Und wie Rothberg markiert Assmann auch Solidarität mit Mbembe: Sein «Trennungswahn» diene als «gemeinsamer Nenner für ganz unterschiedliche Formen von Hass», er bilde die Grundlage einer «Politik der Feindschaft», die einzig auf Spaltung aus sei. Dagegen wolle Mbembe Hass gerade nicht separiert behandeln, sondern «Antisemitismus, Rassismus, Islamophobie, Homophobie, Kolonisierung, Apartheid und Sklaverei» bewusst zusammenstellen, und sei damit ganz in Einklang mit der Stockholmer Holocaust-Erklärung von 2000.

Womit wir zurück sind bei Rothbergs «Mehrweggedächtnis», das kein Entweder-oder, sondern die befreiende Logik des Sowohl-als-auch ins Spiel bringe, wie Assmann weiter anführt: Unterschiedliche Erinnerungen existierten eben «nicht nur in Form der Polarisierung, Aufrechnung und gegenseitigen Leugnung», sondern könnten sich vielmehr auch gegenseitig anregen und bestätigen. Keine Schmälerung also, sondern gegenseitige Anerkennung.

Eine ausgebremste Debatte

Dieser solidarischen Zusammenstellung zum Trotz: Es bleibt kontrovers. Denn auffallend an der deutschen Mbembe-Debatte ist ja, dass der unverstellte Blick auf unterschiedliche Formen von Diskriminierung und rassistischer Gewalt ausgerechnet auf einem Auge entscheidend getrübt ist. Die fein kalibrierten Diskussionen um Relativierungen und den Antisemitismus linker Israelkritik fanden 2020 und auch schon früher vor einer maximal unsubtilen Kulisse statt. Rechtsradikale, islamistische, antisemitische Terroristen mordeten in Berlin, Halle, Hanau und Kassel. Rechtsextreme Aufmärsche füllten die Strassen von Chemnitz. Der laufende Prozess gegen die Rechtsextremistin Beate Zschäpe gemahnte täglich daran, dass der Nationalsozialistische Untergrund jahrelang unbehelligt MigrantInnen ermordet hatte, während die auf dem rechten Auge blinden ErmittlerInnen, flankiert von einem rechts unterwanderten Verfassungsschutz, die längste Zeit nur im Umfeld der Opfer nach Tatmotiven gesucht hatten und so keinen Schritt weiterkamen.

Die erstarkte AfD wiederum hat der Gedankenwelt des rechten Mobs eine Echokammer in die Wohnzimmer, in die Landesparlamente, in den Bundestag hinein eröffnet und zündet dort routiniert viele Ressentiments gleichzeitig: den alten Antisemitismus im neuen Verschwörungskleid, den Islamhass, die Holocaustverharmlosung. Auffallend abwesend ist in diesem reichen Arsenal der Ressentiments einzig der Hass auf Israel. Diese Nähe zu Israel, die fast alle europäischen Rechten zelebrieren, dient ihnen allerdings vor allem dazu, den eigenen Antiislamismus zu rechtfertigen, den man unter anderem damit begründet, MuslimInnen seien antisemitisch. Gleichzeitig hetzt die AfD gegen «Ausländer», die «unsere Kultur» nicht verstünden – und predigt offen Geschichtsrevisionismus: «Schluss mit dem Schuldkult!», schreit eine Parole, und Björn Höcke forderte eine «erinnerungspolitische Wende um 180 Grad».

Antisemitismus und Rassismus wüten also mit mörderischer Offensichtlichkeit direkt vor der Haustür, derweil sich der «Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus» und in seinem Schlepptau Intellektuelle und Feuilleton akribisch mit Achille Mbembes vereinzelten schriftlichen Anmerkungen zum Staat Israel beschäftigten, die in seinem Werk einen marginalen Stellenwert einnehmen. Die Zeitung «Die Welt», medial eine der lautesten Kritikerinnen von Mbembe («steuerfinanzierter Israel-Hass», «Holocaustrelativierer», «Antisemitismus»), beherbergt gleichzeitig den rechten Kolumnisten Don Alphonso. Dieser greift in seinen Texten regelmässig antifaschistisch und antirassistisch engagierte Leute an, die daraufhin auch schon Polizeischutz beantragen mussten. Don Alphonso und seine Hetzkolumnen werden vom «Welt»-Chefredaktor bis heute persönlich verteidigt.

Diese Unverhältnismässigkeit ist das eine. Dazu kommt: Durch die Antisemitismusvorwürfe wurde die überfällige Auseinandersetzung mit Rassismus und Kolonialverbrechen, für die Mbembe und sein Werk exemplarisch stehen, hart ausgebremst. Was Mbembe zu sagen gehabt hätte, musste man sich nun nicht mehr anhören, weil er als verdächtigter Antisemit seine intellektuelle Autorität eingebüsst hatte. Mbembe kam zwar in den Medien weiterhin zu Wort, musste sich dort aber vor allem über sein Verhältnis zu Israel äussern.

Am Kunstwerk klebt Blut

Die Diskussion um Kolonialismus war in eine Diskussion über Israel umgebogen worden, die es wiederum erlaubte, den Theoretiker per abgekürzter Antisemitismusdefinition zur Persona non grata zu erklären. Und mit ihm das Gespenst der postkolonialen Frage – einmal mehr – zu verscheuchen. Die Publikation der deutschen Übersetzung von Rothbergs Buch führt nun dazu, dass dieses Gespenst bereits ein knappes Jahr später wie ein Wiedergänger erneut im Raum schwebt. Dass die deutsche Debatte bezüglich kolonialer Fragen auf einem bescheidenen Niveau verharrt, zeigte nicht nur die kritische Beschäftigung mit Rothberg: Die korrekte Erinnerung an den Holocaust wurde in den Rezensionen mit grosser Tiefenschärfe erörtert, während das Bewusstsein für die kolonialen Völkermorde und Raubzüge eher oberflächlich wirkte.

Das zeigte sich auch bei der erneut aufgeflammten Diskussion rund um die Neueröffnung des Humboldt-Forums mit seiner «in ihrem Umfang einmaligen Auseinandersetzung mit den vergangenen und gegenwärtigen Kulturen Afrikas, Amerikas, Asiens und Ozeaniens», wie es auf der Website stolz heisst. Bereits 2017 hatte die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy, eine der weltweit führenden Expertinnen für Raubkunst und Restitution, die internationale Fachkommission des Humboldt-Forums in einem aufsehenerregenden Schritt verlassen, weil die Provenienzforschung nicht vom Fleck kam. Sie wolle wissen, «wie viel Blut von einem Kunstwerk tropft», sagte sie damals gegenüber der «Süddeutschen Zeitung». Und: «Ohne diese Forschung darf heute kein Humboldt-Forum und kein ethnologisches Museum eröffnet werden.»

Doch auch noch heute, kurz vor der schrittweisen Öffnung des Hauses für das Publikum, scheint Gründungsintendant Horst Bredekamp zu glauben, dass sich die schweren Vorwürfe rund um die Raubkunst im Besitz des Museums und andere koloniale Kontinuitäten einfach wegargumentieren liessen. In der FAZ verweist der deutsche Kunsthistoriker auf die sozialdemokratische und «antikoloniale Tradition» des Humboldt-Forums, die er in den «beiden grossen jüdischen Gelehrten» Aby Warburg und Franz Boas verkörpert sieht. Seine aus dieser Konstruktion abgeleitete Schlussfolgerung: «Der schauerlichste Zug des Postkolonialismus liegt in seiner strukturell antijüdischen Konsequenz.» Übersetzt heisst das: Das Schauerlichste am Postkolonialismus sind für Bredekamp nicht die zutage geförderten Kolonialverbrechen, sondern die von ihm selbst unterstellte antisemitische (weil kritische) Haltung heutiger PostkolonialistInnen gegenüber jüdischen Ethnologen des 19. und anbrechenden 20. Jahrhunderts.

Da ist er also wieder: ein kühn zurechtgebogener Antisemitismusvorwurf als Abwehrzauber gegen unliebsame Debatten. Für diese hat Bredekamp noch den Satz parat, die Diskussion habe sich heute leider «auf die Rückgabe von ‹Raubgut› versteift». Seine eigene kolonial-paternalistische Haltung führt er dabei unverblümt vor, wenn er etwa von Alltagsgegenständen schreibt, «die für die indigenen Völker einen funktionalen Nutzen besassen», während die europäischen Ethnologen auch deren «höchsten erkenntnistheoretischen und auch ästhetischen Wert» erkannt hätten.

Wie es aussieht, wird Bredekamp nun allerdings vom internationalen Forschungsstand betreffend Raubkunst eingeholt. Hunderte von kostbaren Benin-Bronzen, unbestritten das Herzstück der geplanten Ausstellung im neuen Humboldt-Forum, werden womöglich noch dieses Jahr in den rechtmässigen Besitz von Nigeria zurückgegeben. Die Berliner Schau muss sich dann wohl entweder mit Replika oder vielsagenden Leerstellen behelfen.

Die Katastrophen werden nicht weniger

Wenn all die geschilderten Konstellationen und Verwerfungen überhaupt eine Schlussfolgerung zulassen, dann diese: Die Beschäftigung mit historischen Verbrechen würde davon profitieren, wenn sie sich – im Sinne Rothbergs – öffnete und inklusiver würde. Was aber nicht bedeuten kann, dass nun etwa behauptet wird, Schulkinder mit Migrationshintergrund könnten im Geschichtsunterricht nicht mit der nationalsozialistischen Judenvernichtung behelligt werden: Schliesslich seien sie mit für sie näher liegenden historischen Untaten beschäftigt. Genauso wenig darf der schulmeisterliche Verweis auf die Einzigartigkeit von Holocaust und deutscher Erinnerungskultur dazu verleiten, Kolonialverbrechen und anderem Unrecht weniger Aufmerksamkeit zu schenken.

Sicher ist: Der Ruf nach einem Mehrweg-gedächtnis und einer Auseinandersetzung mit anderen Erinnerungsräumen kann nicht auf einen Wettbewerb von erlittenem und erinnertem Unrecht hinauslaufen, mit HistorikerInnen als Schiedsgericht. Letztlich müssen sich auch nicht Holocaustgedenken und Sensibilität gegenüber Antisemitismus verändern. Vielmehr sollte anderen Völkermorden und Raubzügen dieselbe historische Präzision und engagierte Sorgfalt gewidmet werden. Denn: Die Verbrechen und Katastrophen werden ja nicht weniger, sondern immer mehr. Und nichts von dem, was neu dazukommt oder ausgegraben wird, entbindet von der immer wieder neuen Auseinandersetzung mit dem bereits Bekannten. Untaten relativieren sich nicht gegenseitig, aber sie können sich gegenseitig erhellen. Und es bleibt darauf zu beharren, dass die spezifisch deutsche Verantwortung am Holocaust, das Singuläre der systematischen fabrikmässigen Vernichtung von Menschen, nicht zerredet werden darf.

Aktuell arbeitet Rothberg mit der US-Germanistin Yasemin Yildiz an «Citizens of Memory», einem Buch über Migration und Erinnerung, das der Frage nachgeht: Wie formen die Holocaust- und Weltkriegserinnerungen von MigrantInnen das deutsche Nachkriegsgedächtnis neu? Vielleicht dauert es diesmal etwas weniger lang, bis es ins Deutsche übersetzt wird.