Stille Langsamkeit
Die Feuerlilie steht im schönsten Garten des kleinen Ortes. Der Schauplatz von Gianna Olinda Cadonaus Debütroman ist ein Engadinerdorf wie aus dem Bilderbuch: alte Häuser, Blick auf steile Berghänge, ein Brunnen, eine Beiz, ein Laden und der Bahnhof. Hier kommen die beiden Protagonist:innen zugleich an, die Haupterzählerin Vera, eine Journalistin, die sich zum Arbeiten zurückziehen will, und der Mann, dessen Narben Vera im spiegelnden Zugfenster entdeckt hat. Kálmán ist von einem Krieg traumatisiert, in dem er als Kindersoldat und als Gefangener Täter und Opfer war. Nun verfolgen ihn Erinnerungen, die er in Zimmer verbannt, deren Türen er nicht mehr zu öffnen wagt.
Türen spielen in «Feuerlilie» eine symbolträchtige Rolle. Auch Veras Schwester Sophia ist auf Türen fixiert, sie sucht Zugang in eine andere Welt. Sophia kämpft mit nicht näher benannten psychischen Problemen, wie Kálmán schweigt sie oft und richtet den Blick selten auf ihr Gegenüber.
Die Engadinerin Gianna Olinda Cadonau ist wie Vera journalistisch auf romanische Literatur spezialisiert, ausserdem als Lyrikerin selbst im Rumantsch tätig. Ihren ersten Roman schrieb sie jedoch auf Deutsch. Mit kargen Sätzen schafft sie darin eine Atmosphäre geradezu angespannter Langsamkeit, in der die Figuren mehr nachdenken als reden oder agieren. «Wir sitzen schweigend. Wahrscheinlich könnten wir lange so dasitzen und schweigen und nichts tun, das geht mit ihm, es ist, als ob wir dem Denken des anderen zusähen oder zuhörten und das genügte.» Veras unerschöpfliche Geduld im Umgang mit Kálmán und mit ihrer Schwester, wie sie jeden Blick registriert, stets die Reaktion des Gegenübers abwartet und sich selbst ganz zurücknimmt, all das versetzt die Leser:innen dieses aussergewöhnlichen Buches in einen Zustand gesteigerter Achtsamkeit.
Gianna Olinda Cadonau liest in Solothurn am Freitag, 10. Mai 2024, um 14.30 Uhr, und am Samstag, 11. Mai 2024, um 16 Uhr.