Menschenhandel: Auf «Loverboy»- Mission

Nr. 21 –

Eine Organisation mit freikirchlichem Hintergrund schreibt sich den Kampf gegen Menschenhandel auf die Fahne. Sie tut dies mit viel Eifer und einer undurchsichtigen Mission.

Irene Hirzel ist eine umtriebige Frau. Sie tritt auf Podien als Expertin für Menschenhandel auf. Referiert vor SchülerInnen und Fachleuten über die Ausbeutung von Menschen als Sex- oder ArbeitssklavInnen. 2014 hat Hirzel das Beratungs- und Schulungszentrum Act 212 mitgegründet. Die Organisation betreibt seit 2015 eine nationale Meldestelle für Verdachtsfälle auf Menschenhandel. Der evangelikale Hintergrund von Act 212 ist auf der Internetseite des Vereins nicht erkennbar. Doch mit etwas Recherche findet man heraus: Der Grossteil des Vorstands ist Teil der Szene. Präsident Michael Mutzner etwa ist Mediensprecher des Westschweizer Ablegers der Schweizerischen Evangelischen Allianz und ist für den Verein Christian Public Affairs tätig.* Sein Vize Felix Ceccato, der als SVP-Gemeinderat der Berner Gemeinde Fraubrunnen amtet, steht der christlichen Polizeivereinigung vor.

Act 212 trat auf den Plan, nachdem die Schweiz 2012 die Europaratskonvention gegen Menschenhandel ratifiziert und den Nationalen Aktionsplan gegen Menschenhandel lanciert hatte. Dieser forderte eine nationale Meldestelle, Irene Hirzel gründete sie mithilfe der christlichen Ostmission. Finanziert wird Act 212 von gemeinnützigen Organisationen, darunter evangelikalen und landeskirchlichen Vereinigungen. Sie erhält aber auch öffentliche Mittel; so 2019 gut 50 000 Franken vom Bund. Die Organisation betont, man sei konfessionell neutral. Doch gibt es Indizien, dass diese Behauptung nicht stimmt: Act 212 betreibt nicht nur eine tendenziöse Aufklärungsarbeit. Sie kooperiert auch mit einem christlich-missionarischen Wohnheim.

Reisserische Kampagnen

Hirzels Organisation pusht in den Medien vor allem ein Thema: das sogenannte «Loverboy»-Phänomen. Um dieses hat sich in den letzten Jahren ein veritabler Hype entfaltet: Fernsehstationen in ganz Europa berichten über europäische Mädchen, die von jungen, oft muslimischen Männern mit Migrationshintergrund eingewickelt und schliesslich in die Prostitution getrieben würden. Übersehen werden von den meisten Medien nicht nur die hinter diesem Narrativ verborgene Fremdenfeindlichkeit, sondern auch die Treiber dahinter: In den Niederlanden, wo das «Loverboy»-Thema Ende der nuller Jahre medial aufkam, strahlte ein evangelikaler Fernsehsender die ersten «Loverboy»-Berichte aus. Kritik an ihrer Organisation sieht Act 212 hingegen nicht gerne: Auf einen Bericht von «Echo der Zeit», der ebenfalls Fragen zur «Loverboy»-Kampagne aufwirft, reagierte Hirzel mit einem empörten Brief an den SRF-Ombudsmann.

Lelia Hunziker, Geschäftsführerin der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ), sagt: «Es gibt natürlich Frauen, die mit Liebesversprechen angeworben und ausgebeutet werden.» Das sei eine altbekannte Anwerbungsmethode im Menschenhandel. Die «Loverboy»-Kampagne verbreite jedoch das einseitige Narrativ verführter Schweizer Mädchen. Die Realität des Menschenhandels und der verschieden gelagerten Abhängigkeitsverhältnisse sei viel komplexer.

Hunziker kritisiert zudem, dass Act 212 in ihrer Aufklärungsarbeit schablonenhafte Indizien für eine mögliche «Loverboy»-Abhängigkeit aufführe: «Zum Beispiel sexy Kleidung, viel chatten, sich von Eltern distanzieren.» Auch hier scheint die christliche Moralvorstellung durchzudrücken. Hirzel selbst schreibt: «Das Phänomen des Menschenhandels hat sehr viele Gesichter.» Erst durch das Engagement vieler Organisatinen sei es glungen, auf Aspekte wie das Loverboy-Thema hinzuweisen. Act 212 spricht von dreissig «Loverboy»-Meldungen, die in den letzten vier Jahren eingegangen seien, zehn Verdachtsfälle hätten sich erhärtet, es gebe jedoch noch keine entsprechenden Gerichtsurteile.

Offizielle Zahlen zum Phänomen gibt es nicht. Doch die Kantonspolizei Zürich, die eine auf Menschenhandel spezialisierte Einheit führt, relativiert stark. Sie schreibt auf Anfrage: «Wir distanzieren uns vom Begriff ‹Loverboy› als eigenständige neue Deliktsform.» Die Methode des Anwerbens über Liebesversprechen betreffe insbesondere Opfer aus dem Ausland. Weil der Begriff immer öfter in Zusammenhang mit Schweizer Opfern aufgetaucht sei, hat die Kantonspolizei die Lage im Kanton Zürich analysiert. Mit dieser Schlussfolgerung: «Die Vorgehensweise ist nicht gänzlich unbekannt, es liegen jedoch praktisch keine Erkenntnisse über mögliche Fälle vor.»

Das hält Act 212 nicht davon ab, mit einem «Loverboy»-Fonds, der im letzten Jahr mit knapp 88 000 Franken dotiert war, Stimmung zu machen. Die christlich-moralisierende Grundhaltung drückt auch andernorts durch: So tritt Hirzel für das schwedische Modell des Prostitutionsverbots ein und kritisiert Pornokonsum, «der das Multimilliardengeschäft fördert, in dem Frauen und Kinder verheizt werden». Hirzel schreibt zum Vorwurf: «Wir nehmen bewusst keine ideologische Position ein.»

Was passiert mit den Meldungen?

Die von Act 212 betriebene nationale Meldestelle will betroffenen Personen oder Drittpersonen, die einen Verdacht hegen, eine erste Anlaufmöglichkeit bieten. Seltsam mutet allerdings an, dass die Organisation zwar viele Meldungen an polizeiliche Stellen weiterleitet, jedoch Opferhilfestellen wie die FIZ oder die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb) kaum involviert. Hirzel begründet das damit, dass man den betroffenen Frauen nur die Adressen der diversen Hilfs- und Beratungsstellen abgebe. «Die Frauen entscheiden dann aber selber, ob sie sich irgendwo melden.» Die FIZ kritisiert das: «Es reicht nicht, wenn man Betroffenen einen Flyer in die Hand drückt. Es ist wichtig, dass der Kontakt zwischen den Opfern und spezialisierten Stellen wie uns direkt hergestellt wird.»

Verfolgt Act 212 mit ihrer Zurückhaltung ein anderes Interesse? Will sie die Frauen primär in evangelikale Organisationen schleusen? Dieser Verdacht wird durch die Kooperation mit der freikirchlichen Institution Teen Challenge in Glarus genährt. Das Wohnheim ist Teil einer internationalen Bewegung, die 1971 in den USA im Umfeld der evangelikalen Jesus People gegründet wurde (siehe WOZ Nr. 52/15 ), und arbeitet mit psychisch beeinträchtigten Menschen. Dem missionarischen Gedanken wird etwa mit täglichen Morgenandachten Rechnung getragen.

Im Jahresbericht 2018 schreibt Act 212, man habe 2016 mit Teen Challenge eine Nachtmeldestelle für die Polizei aufgebaut, um Opfer «schnell und unbürokratisch unterbringen zu können». Bereits seien dreissig betroffene Frauen in der Glarner Institution untergebracht worden. Eine kleine Umfrage bei den Kantonen Zürich, Basel und Bern ergibt allerdings, dass zumindest die Opferstellen und die Polizeien dieser Kantone meist nicht mit Act 212 und Teen Challenge kooperieren. Man habe Leistungsvereinbarungen mit anderen Opferhilfestellen. Überweisungen nach Glarus kämen nur in seltenen Fällen vor.

Teen Challenge selbst gibt keine Auskunft über sein Engagement. Und auch Irene Hirzel will nichts Näheres zur Zusammenarbeit sagen. Sie schreibt lediglich: «Wir überweisen keine Frauen nach Glarus, sie werden von der Polizei oder von Opferberatungsstellen überwiesen.»

Der Schluss liegt nahe, dass Act 212 nicht mehr nur als Meldestelle, sondern auch bei der Betreuung von Menschenhandelsopfern ein Player werden will und die betroffenen Frauen im evangelikalen Dunstkreis halten möchte. Ob von Menschenhandel betroffenen Frauen hier zielgerecht geholfen wird, darf zumindest infrage gestellt werden: Denn im evangelikalen Weltbild ist der Sündegedanke zentral. Und Sexarbeit ist äusserst sündenbehaftet.

* Korrigendum vom 17. Juni 2020: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion ist uns ein Fehler unterlaufen. Act-212-Vorstandspräsident Michael Mutzner bezeichneten wir als Generalsekretär des Westschweizer Ablegers der Schweizerischen Evangelischen Allianz. Tatsächlich ist er inzwischen Mediensprecher derselben Organisation. Mutzner betreibt auch kein christlich geprägtes Kommunikationsbüro, ist jedoch für den Verein Christian Public Affairs tätig.