«Mein Körper gehört mir. Ich mach damit, was ich will»Sexarbeiter:innen erzählen von ihrer Arbeitsrealität zwischen staatlicher Repression, Stigmatisierung – und individueller Befreiung.
Reisen
Beeindruckend an Maria ist ihre Fähigkeit, Ambiguitäten auszuhalten. Widrigen Umständen ein Stück gutes Leben abzutrotzen.
Marias Weg in die Sexarbeit beginnt vor gut zehn Jahren, da ist sie bereits 51. Zuvor war ihr Leben in Rekordtempo aus den Fugen geraten. So erzählt sie das. Maria stammt aus Brasilien. Als junge Frau wanderte sie nach Spanien aus, wo sie ihren späteren Mann kennenlernte. Die grosse Liebe sei es gewesen, «er machte mir nach drei Tagen einen Heiratsantrag». Die folgenden 24 Jahre, die Maria mit ihrem Mann im nordspanischen Pamplona verbringt, schildert sie als «ein sehr gutes Leben». Eine Tochter. Ein eigenes Kosmetikgeschäft. Freund:innen.
Dann stirbt ihr Mann unerwartet. «Da ging alles den Bach runter.» Sie sei depressiv geworden, erzählt Maria bei einem Treffen in der Isla Victoria, einer Beratungsstelle im Zürcher Langstrassenquartier. «Ich war jeden Tag auf dem Friedhof – drei Jahre lang.» Gleichzeitig verschlechtert sich ihre finanzielle Lage dramatisch. Wegen der Wirtschaftskrise geht ihr im Geschäft die Kundschaft aus. «Ich hatte nur eine winzige Witwenrente und von meinem Mann praktisch nichts geerbt.»
«Du hast eine Woche Zeit, dich zu entscheiden», sagt damals eine Bekannte, die schon öfter in die Schweiz gereist war, um hier als Sexarbeiterin Geld zu verdienen, zu Maria. «Sie hatte alles organisiert: die Reise, eine Wohnung …» Es ist der Anfang ihres neuen Lebens in der Schweiz, ein Neuanfang, auf den sie heute mit Verwunderung blickt. «Ich bin sehr gläubig. Am Anfang bin ich fast gestorben vor Angst. Ich hatte keine Ahnung, wie ich diesen Job machen sollte.»
Als Sexarbeiterin hat Maria immer selbstständig gearbeitet, Kunden lernt sie in den Kontaktbars rund um die Langstrasse kennen. Die Arbeit macht sie in ihrer kleinen angemieteten Wohnung. Bis heute sagt sie: «Nein, ich mache diese Arbeit überhaupt nicht gerne.» Zweimal in den vergangenen zehn Jahren hat sie schlimmste Gewalt erlebt. «Ein Mann hat mich geknebelt und fast in der Badewanne ersäuft. Ich musste um mein Leben betteln.» Ein anderes Mal hielt ein Kunde sie in seinem Haus fest. «Ich habe ausnahmsweise eingewilligt, mit ihm nach Hause zu gehen, was ich sonst nie tue. Wir fuhren dann mit dem Auto immer weiter aus der Stadt hinaus, da wurde mir schon mulmig zumute. In seinem Haus hat er mir mein Handy weggenommen. Er wollte mich nicht bezahlen. Ich musste da schlafen, die ganze Nacht habe ich mich weggedreht, aber gegen Morgen hat er mich belästigt.»
Marias Geschichte hat zwei Seiten: einmal eine leidvolle und demütigende. Aber zugleich ist es auch eine Geschichte, die von Selbstermächtigung, von einem Aufbruch erzählt. Da ist der Mann, den sie kurz nach ihrer Ankunft in der Schweiz kennenlernt und mit dem sie vier Jahre verbringt. Er habe ihr viel von der Schweiz gezeigt, «wir haben Ausflüge gemacht, noch heute sind wir gut befreundet». Auch viele Freundinnen habe sie hier gefunden. Und schnell eine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung erhalten.
Parallel zur Sexarbeit beginnt Maria in den vergangenen Jahren, für Putzfirmen zu arbeiten, macht nur noch zur Aufbesserung des Lohnes Sexarbeit, will Schritt für Schritt umsteigen. Doch gerade machen ihr die Knie einen Strich durch die Rechnung. Sie habe sich kürzlich operieren lassen müssen, erzählt sie. Putzen funktioniere mit den Schmerzen weniger gut als Sexarbeit. Und Geld müsse sie nun mal verdienen. Noch ein paar Jahre. «Bis zur AHV», die sie sich in der Schweiz zusätzlich zu ihrer kleinen Rente, die sie bald aus Spanien bekommen wird, erarbeitet hat.
Anna Maros kennt Hunderte Geschichten wie die von Maria. Die Sozialarbeiterin arbeitet seit fünf Jahren in der Isla Victoria, zuvor war sie für die städtische Beratungsstelle Flora Dora tätig. Sie sagt, genau solche Geschichten würden oft ausgeblendet, weil sich die Debatte über die Sexarbeit derart polarisiert habe. «Weil Akteure wie die Zürcher Frauenzentrale, die ein Sexkaufverbot wollen, ständig sagen, alle Sexarbeiter:innen seien Opfer, hat man auf der anderen Seite den Reflex, die Dinge schönzureden. Also zu sagen, Sexarbeiter:innen seien keine Opfer. Man hat immer Angst, dass Sexarbeitsgegner:innen es sofort zu ihren Gunsten auslegen, wenn man das einräumen würde.»
Doch tatsächlich gebe es einfach alles, sagt Maros. «Am einen Ende des Spektrums die ultrasexpositive Frau, die ihren Job gerne und total freiwillig macht, auf der anderen Seite Sexarbeiter:innen, die von Menschenhandel, Ausbeutung und Gewalt betroffen sind.» Dazwischen sei die grosse Grauzone. «Neunzig Prozent der Sexarbeiter:innen entscheiden sich für diese Arbeit, weil das im Kapitalismus nun einmal die beste Option für sie ist. Oft aus wirtschaftlicher Notwendigkeit und mangelnden Alternativen. Manchmal aber auch aus anderen persönlichen Gründen.»
Kein anderer Ort in der Schweiz ist in der Debatte rund um Sexarbeit mehr zum Symbol geworden als die Zürcher Langstrasse, wo sich das Geschäft mitten in der Ausgehmeile abspielt, in Kontaktbars, Clubs und auf der Strasse, obwohl Letzteres hier offiziell verboten ist. Der internationale Boulevard erklärte Zürich zur «Sexhauptstadt», zum Zentrum von Ausbeutung und Missbrauch. Maros sagt, die Sexarbeiter:innen, die rund um die Langstrasse arbeiteten, gehörten sicher tendenziell zu den prekarisierteren. Und die Arbeitsbedingungen hätten sich in den letzten Jahren noch einmal verschärft. «Seit dem Schweizer Beitritt zu Schengen sind die Preise zusammengebrochen.»
Der zweite Einschnitt sei Corona gewesen. Seither habe sich die Verlagerung in den digitalen Raum beschleunigt. «Das Business verschwindet in Temporärappartements, Airbnb- und Privatwohnungen.» Das verstärke den Druck, riskante Praktiken anzubieten. «Man verdient mit Drogenkonsumation mit den Freiern mehr, Oralsex ist fast immer ohne Gummi. Dazu die Gentrifizierung, die die Mieten in die Höhe treibt und Lokale verdrängt, Vermieter, die Wucherpreise für ein Zimmer verlangen.
Dennoch werde das Milieu rund um die Langstrasse nie verschwinden, ist Maros überzeugt. Frauen ohne geregelten Aufenthaltsstatus könnten sich nicht im Internet exponieren. Mit schlechter Bildung wiederum habe man kaum Zugang zu teuren Clubs. «Die Strasse ist das Niederschwelligste, was man machen kann.»
Am Mittagstisch der Isla Victoria hängen spanische Wortfetzen in der Luft, man hört afrikanisch gefärbtes Englisch. Viele der Frauen, die hier ein warmes Mittagessen erhalten, kommen aus Nigeria, manche aus Osteuropa, ein grosser Teil aus Lateinamerika. Gibt es irgendwo auf der Welt eine Wirtschaftskrise, treffen früher oder später auch Frauen aus diesen Regionen am Tisch ein. So wie die sehr junge Frau mit Brille, die nur sagt, sie sei gerade erst aus Venezuela angereist und heute zum ersten Mal hier. Je weniger «wert» der Pass der Anreisenden ist, desto prekärer ihre Situation.
Viele der Sexarbeiter:innen, die rund um die Langstrasse tätig sind, sind Pendler:innen. Reisende, die komplexe Leben zwischen Ländern und Welten meistern. So wie Janet und Rosi, die zusammen beim Mittagstisch auftauchen, um rasch ein Essenspaket mitzunehmen. Beide stammen aus der Dominikanischen Republik, leben jedoch schon lange in Spanien. Zwischen Tür und Angel skizzieren die beiden ihren grenzüberschreitenden Kampf für ein besseres Leben. Sie kämen jedes Jahr für einige Wochen nach Zürich, erzählen sie, arbeiteten hier in einer Kontaktbar an der Langstrasse.
Die 42-jährige Janet sagt, zum ersten Mal sei sie vor einigen Jahren gekommen. Damals habe ihre gehörlose Tochter ein Implantat benötigt. «Die Krankenkasse hat das nicht bezahlt. Ich hatte keine andere Möglichkeit, das Geld zu beschaffen.» In Spanien habe sie zwar immer gearbeitet, doch sobald irgendeine Zusatzausgabe anstehe, reiche das Geld nicht mehr. Der Nebenjob in der Schweiz sei deshalb «reine Notwendigkeit». «Wie soll ich ein Sofa bezahlen, einen Fernseher?» Auch die 53-jährige Rosi sagt: «In Spanien verdiene ich mit Putzen drei, vier Euro die Stunde.» Das reiche nicht, um ihre Familie zu unterstützen, die überall verstreut lebe. «Die kranke Mutter noch in der Dominikanischen Republik, ein erwachsenes Kind in Spanien, eins in Italien. Und ich reise zwischen allen hin und her.»
Pearl spricht mit doppelbödigem Witz und vieldeutigem Blick. Manchmal klopfe es an die Tür ihres Zimmers, wenn sie gerade mit einem Kunden beschäftigt sei. Dann flüstere sie dem Kunden, mit dem sie gerade im Zimmer sei, noch rasch ihren Namen zu und frage nach seinem. «Ich sage: ‹Tu so, als würden wir uns kennen, als wären wir Freunde!›» Zum Lachen ist die Episode nicht. Auch Pearl, die seit zehn Jahren an der Langstrasse arbeitet – immer auf der Strasse, wie sie schulterzuckend meint –, hat zwar einen spanischen Pass. Doch weil sie mehrmals im Jahr zum Arbeiten kommt und dafür keine Bewilligung hat, muss sie unter dem Radar bleiben. Noch mehr als gewalttätige Kunden fürchtet sie deshalb die Polizei: «Es ist die ständige Paranoia. Sie machen Jagd auf mich, als wäre mein Körper Kokain oder Marihuana, nach dem sie fahnden. Genau so fühle ich mich.»
Auch das sogenannte Anfreiern kennt Pearl. Immer wieder würden sich Polizisten als Kunden ausgeben, um dann Bussen zu verteilen – wegen der fehlenden Arbeitsbewilligung oder weil sie auf der Strasse anschafft. Das alles sei enorm demütigend. Fragt man Pearl, was sie von der Idee halte, Sexkauf zu verbieten, ist die Antwort klar: «Ich verstehe die Logik dahinter nicht. Wie soll mich das schützen?» Die Sexarbeit werde nie verschwinden, «denn wenn du aus einem Land ohne Perspektiven kommst, wenn du keine Ausbildung hast, ist es das, was du machen kannst». Und überhaupt, meint sie: «Mein Körper gehört mir. Ich mach damit, was ich will, das geht die nichts an.» Verbiete man den Kauf von Sex, «dann übernimmt einfach die Mafia», und je weiter das Geschäft in den Untergrund wandere, desto gefährlicher werde es für die Sexarbeiter:innen. Sie selbst weiss, was es bedeutet, keinen Schutz zu haben. «Ich kann mich nur mit Pfefferspray wehren, wenn ein Kunde gewalttätig wird. Natürlich kann ich zur Polizei gehen und eine Anzeige machen, aber dann bekomme ich auch eine Busse.» Dieses Machtgefälle machten sich manche Kunden zunutze. «Wenn sie nicht bekommen, was sie wollen, drohen sie damit, die Polizei zu rufen.»
Sozialarbeiterin Anna Maros sagt: «Die Bewegung, die Sexkauf verbieten will, behauptet immer, niemand mache diesen Job freiwillig.» Aber es sei enorm zynisch, wenn priviliegierte weisse Mittelschichtsfrauen weniger priviliegierte Frauen einer ihrer wenigen Optionen beraubten. «Das geht nur, wenn man sich der eigenen Privilegien und Wahlmöglichkeiten nicht bewusst ist.» Maros fragt sich oft, «ob es der Bewegung wirklich um die Sexarbeiter:innen geht. Oder einfach um die Bestrafung der Männer, um Moral.» Zumal ein Sexkaufverbot eben jene am härtesten treffe, denen man am dringendsten helfen wolle. Es seien oft illegalisierte Frauen aus Nigeria, bei denen die Beratungsstelle mitbekomme, dass sie von Menschenhandel betroffen seien, sagt Maros. Die Betroffenen würden auf jede erdenkliche Weise in der Abhängigkeit gehalten. Oft werde Familienmitgliedern in den Herkunftsländern Gewalt angedroht. «Und viele Frauen müssen bei einem spirituellen, sogenannten Juju-Ritual Loyalität schwören.» An die Betroffenen heranzukommen, sei für Polizei und Sozialarbeit sehr schwierig, «und es wäre in einem illegalisierten Markt noch viel schwieriger».
Auch Frauen, die in ihren Herkunftsländern stark diskriminierten Minderheiten angehören, werden oft Opfer von Menschenhandel. So wie Diana, die bei einem Treffen erzählt, wie sie als Romni vor zwanzig Jahren zum ersten Mal aus Rumänien in die Schweiz gekommen ist. Damals sei sie gut 30 gewesen, «geschieden, mit zwei kleinen Kindern, in einem perspektivlosen kleinen Ort weit oben im Norden des Landes». In der Nachbarschaft habe sie einen Ungarn kennengelernt, «er hatte viele Bekannte, auch Frauen». Der Mann habe ihr versprochen, sie für 5000 Franken in die Schweiz zum Arbeiten zu bringen, «ich sei frei, sobald ich das Geld abbezahlt hätte».
Diana wusste, dass sie in der Schweiz Sexarbeit machen würde, «aber bei allem anderen war er nicht ehrlich». Der Mann habe immer mehr Geld gefordert, «und er ist mir nicht mehr von der Seite gewichen. Er war einfach immer da. Ich musste mit ihm in einem Bett schlafen. Sofort nach dem Aufstehen hat er Stress gemacht, nachts musste ich bis drei, vier Uhr arbeiten.» Diana erzählt, sie habe sich nach drei Monaten vom Zuhälter befreien können. «Ich bin aus dem Zimmer raus und habe ihn angeschrien: ‹Wenn ich zurück bin, bist du weg, sonst liefere ich dich der Polizei aus!›» Das habe gewirkt. Seither pendelt sie selbstständig zwischen dem rumänischen Dorf und der Zürcher Langstrasse. Zu Hause wisse kaum jemand, was sie hier tue. Das Männerbild, das Diana aus den vergangenen zwanzig Jahren mitgenommen hat, ist kein positives: «Man sollte wirklich alle Männer bestrafen dafür, was sie Frauen antun», sagt sie. «Ich wurde so oft geschlagen.» Gleichzeitig aber sei sie sich des Widerspruchs bewusst, dass die Bestrafung von Freiern Frauen nicht schützen würde. «Im Gegenteil. Sie sind darauf angewiesen, dass Sexarbeit legal ist. Der Staat sollte alle, die Zimmer an Frauen vermieten, dazu verpflichten, dass sie Sicherheitsleute anstellen, damit sie geschützt werden.»
Sich über Wasser halten
Wie lässt es sich erklären, dass Antiprostitutionsfeministinnen – ein paar der bekanntesten Namen sind Andrea Dworkin, Catharine MacKinnon, Alice Schwarzer – an der Kriminalisierung der Sexarbeit festhalten, obwohl diese das Leben von Sexarbeiter:innen erwiesenermassen gefährlicher und prekärer macht? Entscheidend dafür ist die symbolische Aufladung der Sexarbeit, wie Juno Mac und Molly Smith in «Revolting Prostitutes. The Fight for Sex Worker’s Rights» schreiben: «Der Kunde steht symbolisch für alle gewalttätigen Männer. Er ist der Avatar unverfälschter Gewalt gegen Frauen, der archetypische Räuber.» Zugleich stünden Sexarbeiter:innen stellvertretend für das Trauma, das im Patriarchat allen Frauen zugefügt werde. Bei manchen geht diese Aufladung so weit, dass sie in einen regelrechten Hass auf Sexarbeiter:innen umschlägt. So schrieb die britische Autorin und Prostitutionsgegnerin Julie Burchill in einem ihrer Bücher: Wenn «der Sexkrieg gewonnen» sei, «sollten Prostituierte für ihren schrecklichen Verrat an allen Frauen als Kollaborateurinnen erschossen werden».
Amia Srinivasan, Professorin für Philosophie in Oxford, verortet derartige Positionen in ihrem Buch «Das Recht auf Sex. Feminismus im 21. Jahrhundert» als Teil einer Strömung, die in den USA im Verlauf der achtziger Jahre dominant wurde: der «karzerale Feminismus». Der von der US-Soziologin Elizabeth Bernstein geprägte Begriff meint einen Feminismus, der nicht mehr auf die Mittel des Sozialstaats setzt, um Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen, sondern auf Repression, auf Polizei, Gerichte und Gefängnisse.
Das zentrale Problem dieses Ansatzes sieht Srinivasan darin, dass er die Erfahrung privilegierter weisser Frauen zum Massstab nimmt. Klassenverhältnisse und rassistische Strukturen werden dabei ausgeblendet: «Ein Feminismus, der die Bestrafung gewaltbereiter Männer als sein oberstes Ziel betrachtet, wird nie ein Feminismus sein, der allen Frauen Freiheit bringt, denn er verstellt den Blick auf das, was die Mehrheit der Frauen unfrei macht.» Für die meisten Sexarbeiter:innen sei das in erster Linie nicht die Sexarbeit, sondern Armut oder Einwanderungsrechte. Deshalb helfe ihnen die Kriminalisierung nicht.
Die Befürworter:innen verschiedener Formen von Kriminalisierung reklamieren für sich, eine ideale Zukunft ohne Sexarbeit anzustreben. Allerdings stärkt ihre Strategie zuerst einmal repressive Staatsorgane, die fern von feministischer Sensibilität agieren und viele Frauen eher in Gefahr bringen, als sie zu schützen (in den USA sind sexuelle Übergriffe die am zweithäufigsten gemeldete Form von Polizeigewalt).
Umgekehrt lässt sich fragen: Wie müsste eine Welt aussehen, in der alle eine möglichst grosse Wahlfreiheit hätten und niemand darauf angewiesen wäre, Sex zu verkaufen? Die Antwort darauf wäre umfangreich und revolutionär: ein Abbau der globalen Ungleichheit, gesicherte Wohn- und Arbeitsverhältnisse für alle, weltweite Bewegungsfreiheit. Für die Sexarbeiter:innen wäre der erste Schritt dahin, dass ihnen ermöglicht würde, ihre eigenen Bedingungen zu stellen, wie Juno Mac und Molly Smith schreiben. Das setze voraus, dass Sexarbeit als Arbeit anerkannt und rechtlich geschützt werde.
Genau bei dieser Forderung setzt das Sexworkers Collective an, die einzige bekannte Organisation von Sexarbeiter:innen in der Schweiz, die für deren Rechte kämpft. «Wir brauchen keine Rettung, sondern Rechte und Möglichkeiten zur Selbstbestimmung», schreibt das Kollektiv auf seiner Website. 2021 gegründet, will das Kollektiv auch eine Gemeinschaft sein, um der strukturellen Isolation und der Stigmatisierung der Sexarbeit entgegenzuwirken. Dazu organisiert es regelmässige Treffen, ein wichtiges Angebot für viele Sexarbeiter:innen, die sonst mit niemandem über ihre Arbeit sprechen können.
In den Medien war das Kollektiv zuletzt im vergangenen März. Damals rief das Sexworkers Collective gemeinsam mit ProCoRe, dem nationalen Netzwerk für die Rechte von Sexarbeitenden, zu einer Demo gegen eine Antiprostitutionsveranstaltung der Frauenzentrale im Zürcher Volkshaus auf, wo der schwedische Polizist Simon Häggström für das in seinem Land seit 1999 geltende Sexkaufverbot warb. Ein solches wird von Sexarbeiter:innen international grossmehrheitlich abgelehnt. Eine aktive Sexarbeiterin suchte man auf der Bühne vergeblich.
Im internationalen Vergleich gehört die gesetzliche Regulierung der Sexarbeit in der Schweiz zu den liberalsten, gilt Sexarbeit hier doch grundsätzlich als legitime Arbeit, die durch Rechte geschützt wird. In grossen Teilen der Welt ist Sexarbeit dagegen komplett verboten, etwa in fast allen US-Bundesstaaten oder in weiten Teilen Afrikas und Asiens. Einige Länder kriminalisieren gemäss dem sogenannten nordischen Modell offiziell nur den Kauf von Sex, faktisch aber auch die Sexarbeiter:innen.
Wer in der Schweiz Sexarbeiter:innen länger zuhört, erfährt dennoch immer wieder von Situationen, in denen sie gegenüber anderen Erwerbstätigen diskriminiert werden. So erhalten offiziell gemeldete Sexarbeiter:innen bei den meisten Banken kein Konto und keine Taggeldversicherung für den Krankheitsfall. Wer sich als EU-Bürger:in um eine Anmeldung oder längerfristige Bewilligung bemüht, stösst auf einen undurchdringlichen föderalistischen Flickenteppich. So wird etwa die Frage der Selbstständigkeit von Kantonen und Behörden ganz unterschiedlich bewertet, manche Kantone fordern Businesspläne – in der Summe sind das Hürden, die viele Frauen in die Illegalität treiben. Auch die kantonalen Regulierungsgesetze diskriminieren Sexarbeiter:innen. Etwa mittels Zonenplänen, die Sexarbeit aus den Wohnvierteln verdrängen. Die Auflagen, um die Arbeit gesetzeskonform auszuüben, sind vielerorts so kompliziert, dass das selbst Sexarbeiter:innen, die hier aufgewachsen sind und perfekt Deutsch sprechen, nur mit Mühe gelingt. Fachleute beklagen auch, die Behörden hätten bei der Kontrolle von Clubs und Bordellen einen repressiven Fokus. Hingegen werde kaum kontrolliert, ob Arbeitsrechte gewährleistet seien. Viele Sexarbeiter:innen würden deshalb um ihre Sozialleistungen betrogen.
Das Sexworkers Collective fordert eine vollständige Entkriminalisierung der Sexarbeit. Doch auch in der Schweiz hat in den vergangenen Jahren die gegenteilige Forderung Aufwind erhalten: Eine Allianz von bürgerlichen Feministinnen und freikirchlichen Kreisen insistiert beharrlich auf dem nordischen Modell und betreibt eine Kampagne, die medial viel Widerhall findet (vgl. «Lobby gegen Sexarbeit»).
Eine der Sexarbeiter:innen, die gegen die Veranstaltung im Zürcher Volkshaus demonstriert haben, ist Tessa. «Die Frauenzentrale behauptete hinterher, die Fachstellen hätten die Demo organisiert, und es sei praktisch niemand gekommen. Tatsächlich aber waren etwa vierzig Sexarbeiterinnen da – und ich habe diese Demo organisiert!», sagt sie bei einem Treffen in Zürich. Die Kampagne der Antiprostitutionsbewegung, die ihre Rechte als Sexarbeiterin bedrohe, habe sie politisiert. Tessa erzählt von einem Video der Frauenzentrale, das in zynischem Ton für ein Praktikum im Bordell wirbt. Von Flyern mit Slogans wie «Geiler Vergewaltiger», die in Zürich auf Autos mutmasslicher Kunden gesteckt wurden. Vom Vorgehen freikirchlicher Organisationen wie Heartwings, die Sexarbeit an sich bekämpfen. Tessa tauscht sich im Sexworkers Collective regelmässig mit anderen aus. Politisch aktiv zu werden, mache es für sie einfacher, sich gegen die ständigen Angriffe auf sie und ihre Arbeit zu schützen, sagt sie.
Auf der Website einer freikirchlichen Organisation las Tessa, diese wolle den Sexarbeiter:innen ihre «verlorene Würde» wiedergeben. «Die gehen schon vom Standpunkt aus, dass ein Mensch, der diese Arbeit macht, gar keine Würde haben kann – das ist doch eine Frechheit. Die sprechen uns jegliche Selbstbestimmung ab.»
Tessa hatte mit Mitte zwanzig gute Gründe, mit der Arbeit in der Gastronomie aufzuhören und mit Sexarbeit anzufangen. Sie verdiente wenig, ihr Chef bezahlte über Jahre für sie keine Sozialabgaben ein, die Arbeitszeiten machten sie einsam, sie wurde ausgegrenzt. «Ich fand die Vorstellung so schlimm, dass ich diesen Job noch vierzig Jahre machen muss.» Als ihr ein Freund von einem Sexclub erzählte, der von einer Frau geführt wurde, fing sie dort an. «Für mich war die Sexarbeit die bessere Alternative», sagt Tessa. Im Moment mache sie eine Weiterbildung, die sie sich schon lange gewünscht habe. Mit einem Gastrojob hätte sie diese nie finanzieren können.
Heute arbeitet die 35-Jährige selbstständig im Escort. Der Service, den Tessa am häufigsten anbietet, nennt sich im Gewerbejargon «Girlfriend Experience». Das heisst: Bezahlt wird nicht nur für Sex, sondern auch für eine zärtliche, möglichst intime Begegnung. Über ihre Kunden spricht Tessa mit Zuneigung. «Die meisten Männer, die zu mir kommen, suchen eigentlich Nähe, Wertschätzung und dass ihnen jemand zuhört.» Dass sie sich ihr gegenüber verletzlich zeigten, habe auch ihren Blick auf Männer verändert. «Sie haben ein genauso starkes Bedürfnis nach Zärtlichkeit, können es nur oft nicht ausdrücken, weil sie anders sozialisiert wurden.»
Tessa hielt nicht immer viel von ihrem Job. «Als ich damit anfing, dachte ich: Jetzt bist du echt am Nullpunkt angelangt. Aber ich bezahlte ja meine Rechnungen, hatte eine eigene Wohnung – das stimmte doch gar nicht.» Drei Jahre habe sie gebraucht, um die Selbstabwertung zu überwinden. «Dabei gibt es so viele Menschen, die sich mit Sexarbeit über Wasser halten, ihren Kindern die Uni bezahlen, sich aus richtigen Scheisssituationen befreien – das ist doch so viel wert.»
Der grösste Teil der Sexarbeit findet heute über das Internet statt. Die meisten Sexarbeiter:innen schalten Inserate auf einer von zwei grossen Websites für Sexarbeit, deren riesige Profite an undurchsichtige internationale Netzwerke gehen. Die Inserate sind oft nur für wenige Tage online, denn sie sind teuer, bessere Platzierungen kosten extra. Es ist üblich, dass Sexarbeiter:innen im Monat mindestens 600 Franken für Inserate ausgeben, es können aber auch über 1500 Franken sein. Mit fragwürdigen technischen Einstellungen knöpfen die Betreiber der Websites den Sexarbeiter:innen möglichst viel Geld ab.
Auch Lucy schaltet Inserate auf diesen Seiten, um für ihre Dienstleistungen zu werben. «Wenn man möglichst viele potenzielle Kunden erreichen will, hat man fast keine andere Wahl», sagt sie. Neuere Portale, die nicht derart ausbeuterisch sind und die Wünsche der Sexarbeiter:innen für ein effizienteres Marketing ernst nähmen, hätten sich unter den Kunden leider nicht durchgesetzt.
Einen der ersten Männer, die sie für Sex bezahlen, trifft Lucy an der Zürcher Langstrasse. Kurz zuvor war sie mit einer Freundin in einem Tanzclub, jetzt essen sie ein Stück Pizza am Strassenrand, als ein gleichaltriger Mann Lucy anspricht und nach ihrer Nummer fragt. «Ich überlegte kurz und antwortete: ‹Für hundert Franken gebe ich sie dir›», erinnert sich Lucy. Er willigt ein, sie trifft ihn mehrmals in einem Hotel. «Ich fand ihn heiss, und wir hatten geilen Sex, und danach gab er mir jeweils 300 Franken.» Sie habe das einfach zum Spass gemacht.
Einmal schickt ihr der Mann ein Foto von seinem Auto, um damit anzugeben. Über das Kennzeichen gelingt es Lucy, an Informationen über ihn zu kommen: dass der Mann Frau und Kinder hat, dass er einmal im Gefängnis war. Lucy ist erstaunt, wie wenig es ihr ausmacht, all das zu erfahren. «Früher hätte mich das zerstört, weil ich Sex mit romantischen Gefühlen verwechselt habe. Aber weil er mir Geld gegeben hat, konnte ich mich gut davon abgrenzen.»
In der Schule wurde Lucy gemobbt, sie wuchs in schwierigen Familienverhältnissen auf. In ihren Zwanzigern hatte sie mit vielen Männern Sex. Oft kam später raus, dass diese eine Freundin hatten. Lucy erlebte viel Zurückweisung und «Ghosting», also einen unvermittelten Kontaktabbruch, wie es heute beim Dating oft vorkommt. «Ich fühlte mich immer ausgenutzt», sagt sie über diese Zeit. Ein Exfreund mischte ihr Drogen ins Getränk, um sie gefügig zu machen. «Die schlimmsten Übergriffe habe ich bis Mitte zwanzig erlebt, lange bevor ich Sexarbeit machte», sagt Lucy. «Erst mit der Sexarbeit habe ich gelernt, was Konsens ist – und dass ich auch Sex zu meinen Bedingungen haben kann.»
Jetzt sitzt Lucy, die heute Ende dreissig ist, in der kleinen Polstergruppe eines in Grau- und Beigetönen gehaltenen Appartements, das sie für einige Tage gemietet hat. Überhaupt sei sie durch die Sexarbeit viel politischer geworden, sagt Lucy. «Dadurch habe ich erst verstanden, was Kapitalismus ist und was für Auswirkungen patriarchale Strukturen auf das Leben von Frauen haben.» Heute sei sie froh, sich in ihrer Freizeit nicht mehr mit Dating abgeben zu müssen. «Einen Teil meiner Bedürfnisse nach Sex, körperlicher Nähe und Anerkennung kann ich durch meine Arbeit befriedigen.»
Dass Lucy mit Anfang dreissig anfängt, von der Sexarbeit zu leben, hat mit einer schweren Lebenskrise zu tun. Seit der Lehre arbeitet sie in einem Bürojob, teilweise sechzig bis siebzig Stunden pro Woche, erleidet eine Erschöpfungsdepression. Als die Taggeldversicherung nach zwei Jahren nicht mehr zahlt, landet sie in der Sozialhilfe, weil ein Gutachter der IV sie trotz einer Diagnose ihrer Psychiaterin für voll arbeitsfähig hält. Erst später wird bei ihr ADHS diagnostiziert. «In diesem System zu sein, war so schlimm», sagt Lucy. «Dein Lebensunterhalt hängt davon ab, dass du krank bist. Wenn du einem fremden Mann, der dir das erste Mal gegenübersitzt, nicht deine schlimmsten und traumatischsten Geheimnisse erzählst, sitzt du bald ohne Geld und Zukunft da. Wie sollst du da wieder rauskommen und wirklich gesund werden? Das ist für mich ein krasses Machtverhältnis – nicht aber, wenn ein Kunde eine Dienstleistung bei mir kauft.»
Während eines Wochenendes in London lernt Lucy auf einer Swinger:innenparty eine junge Frau kennen, die von Sexarbeit lebt. Lucy braucht einen neuen Laptop und beginnt, mit der neuen Freundin Dreier anzubieten: «Das fiel mir nicht schwer, ich war sexuell immer offen gewesen.» Einmal hütet sie für zwei Wochen die Wohnung der Freundin, empfängt ihre ersten Kunden. Es läuft gut. Lucy beschliesst, es in London zu probieren, und meldet sich von der Sozialhilfe ab. «Das war befreiend: plötzlich wieder genug Geld zu haben und niemandem meine Bankauszüge vorlegen zu müssen.»
Lucy blickt auf ihr Handy. Das vereinbarte Treffen mit einem ihrer Kunden fällt ins Wasser, es geht ihm nicht gut.
Mit ihrer eigenen mentalen Gesundheit – sie leidet auch unter einer Angst- und Panikstörung – sei es immer noch ein Auf und Ab, sagt sie. Die Sexarbeit erlaube es ihr im Gegensatz zu anderen Jobs, während eines Tiefs auch mal zwei Wochen nicht zu arbeiten. Als es um die Probleme ihres Berufs geht, zeigt sie auf ihrem Handy die Übersichtsseite zu ihrer aktuellen Bildschirmzeit: über 24 Stunden in drei Tagen, ausschliesslich für die Arbeit, das meiste fürs Chatten mit Erstkontakten – alles unbezahlte Arbeitszeit. Und das, obwohl gerade Sommerflaute ist. «Vielen ist nicht bewusst, was wir alles machen und können müssen: Fotos inszenieren, Inserate schalten, Duschtücher und Bettwäsche waschen, Buchhaltung führen, Kleider und Utensilien besorgen, Unterkünfte organisieren, mit Menschen umgehen, viel Kommunikation. Wir sind Unternehmer:innen und verdienen es, dass unsere Tätigkeit von der Gesellschaft als Arbeit anerkannt wird.»
An London vermisst sie die hervorragende staatliche Klinik für sexuelle Gesundheit im queer geprägten Quartier Soho, wo sich Sexarbeiter:innen regelmässig gratis auf Krankheiten testen lassen können. Und den Peersupport, also institutionalisierte Beratung durch andere Sexarbeiter:innen. Das bräuchte es in der Schweiz auch, findet Lucy.
Coming-out
In den Geschichten von Sexarbeiter:innen geht es oft um das Abwägen, wem man von seiner Arbeit erzählt und wem nicht. Fast alle berichten von Momenten, in denen sie sich geoutet hätten oder gegen ihren Willen geoutet worden seien. Das mit ihrer Arbeit verbundene Stigma erleben fast alle auf die eine oder andere Weise.
Auf dem leuchtend weissen Tisch vor Mia liegen drei Handys: eines für den privaten Gebrauch, zwei für den geschäftlichen. Das zweite Arbeitshandy hat sie wegen eines Exfreunds, der extrem eifersüchtig ist, obwohl er selber oft untreu ist. Einmal klaute er ihr Handy und outete sie in ihrem ganzen Freundeskreis, indem er ihr Inserat herumzeigte. Dann gab er ihr das Handy zurück. Jetzt braucht es Mia für Kunden, die ihre Nummer von früher kennen.
Sie sitzt auf der Terrasse einer Rooftopbar am Flughafen Zürich, vor sich ein Glas Rosé, und sagt: «Wenn ich in diesem Land keine Krankentaggeld- oder Unfallversicherung abschliessen kann, wenn ich in Bezug auf meine Arbeit ehrlich bin, dann bin ich auch nicht bereit, alles zu versteuern.» Einen Teil des Geldes, das Mia mit Sexarbeit verdient, legt sie darum bar in einen Tresor. Wegen Geldwäsche und Menschenhandel gelte Sexarbeit in der Versicherungs- und Bankenbranche als unerwünschtes Risiko. Mia weiss, von was sie spricht, sie arbeitet hauptberuflich für eine grosse Versicherung, intern sei dort klar: Keine Verträge mit Sexarbeiter:innen. «Darum sind viele von uns gezwungen, sich unter einem falschen Beruf zu melden, um sich absichern zu können.»
Mia ist 32 Jahre alt, doch in ihrem Profil steht 27. «Die Kunden fragen nicht nach, wichtig ist die Vorstellung. Viele denken, mit 30 bist du schon eine Milf – da frage ich mich schon, was Pornografie mit unserer Gesellschaft macht.» [«Milf» steht für «Mom I’d like to fuck».]
Mit der Sexarbeit beginnt Mia, nachdem sie in einem Zeitungsartikel von Sugar Daddys liest: älteren Männern, die vor allem Zeit mit jüngeren Frauen verbringen wollen, «aber natürlich wollen sie auch Sex, am liebsten ohne Verhütung». Mit der Zeit merkt sie, dass bei den Treffen zu wenig für sie herausspringt. «Ich nenne diese Männer mittlerweile Diabetes Daddys – weil sie so knausrig sind. Die wollen sich einfach für wenig Geld von jungen Girls begleiten lassen, weil ihnen eine Sexarbeiterin zu teuer ist.»
Einmal buchte ein Kunde bei Mia einen Termin. Als der Mann in ihrer Wohnung stand und es um die Bezahlung ging, zückte er seinen Polizeiausweis. Mia wurde vom Polizisten überrumpelt, nachdem sie von ihrem anderen Job nach Hause kam, um noch einen Kunden zu empfangen. «Er fragte, ob ich eine Arbeitsbewilligung hätte. Ich sagte, ich sei Schweizerin, ich bräuchte keine. Er: ‹Ah … dann einen Ausweis.›» Für viele, die regelmässig Inserate schalteten, seien solche Fakebuchungen durch die Polizei üblich. «Nur aufgrund des falschen Vorwands verschafft sich die Polizei ohne konkreten Tatverdacht Zugang zu Wohnungen und begutachtet diese – zu einer Zeit, in der wir Termine abmachen müssen, um unser Geld zu verdienen.»
Lilo spricht mit ihrer zehnjährigen Tochter über Sexarbeit – aber nicht darüber, dass sie selbst diese Arbeit macht. «Ich glaube nicht, dass sie ein Problem damit hätte. Aber ich hätte Angst, dass sie anders angeschaut würde, etwa von ihren Mitschüler:innen – es ist ja nicht bloss irgendeine Information.» Lilo denkt, dass es mit den Jahren eher schwieriger werden dürfte, es ihr zu erzählen, weil so auch der Zeitraum immer grösser wird, in dem sie es ihr verschwiegen hat. «Aber ich hoffe, dass sie dafür mehr Mittel haben wird, um kritisch über das Stigma nachzudenken.»
Heute führt Lilo eine Beziehung mit einer Frau. Sex mit Männern hat die 38-Jährige privat schon lange nicht mehr – als Sexarbeiter:in dafür fast ausschliesslich. So sei es für sie auch einfacher, sich von der Arbeit abzugrenzen, die sie vor allem des Geldes wegen macht. Dieses erlaubt ihr, mehr Zeit mit ihrer Tochter zu verbringen. «Wenn ich daran denke, dass ich auch Care-Arbeit für Cis-Männer mache, finde ich aus politischer Sicht schon nicht, dass meine Arbeit besonders sinnvoll ist», sagt Lilo. Es seien auch schon Frauen oder queere Personen zu ihr gekommen. «Aber da habe ich gemerkt, dass mein Anspruch an meine sexuelle Dienstleistung sofort viel höher war.»
Auch mit dem Vater ihrer Tochter spricht Lilo nicht über ihre Arbeit. Als sie sich vor über sieben Jahren trennten, drohte er damit, dass er zur Kesb gehen würde. Obwohl Lilo weiss, dass ihr die Kesb nicht wegen ihrer Arbeit ihr Kind wegnehmen kann, hat ihr die Drohung Angst gemacht. Heute versteht sich Lilo wieder gut mit dem Vater, aber in dieser Sache traut sie ihm bis heute nicht ganz.
Ankommen
Immer wieder taucht in den Lebensgeschichten von Sexarbeiter:innen eine Form von individueller Befreiung auf: von Expartnern, aus psychischen Abgründen, aus der Enge der eigenen Herkunft – hin zu einem mehr oder weniger stabilen Leben.
Die Geschichte einer solchen Befreiung erzählt Isabella, die vor dreizehn Jahren aus Ungarn nach Zürich gekommen ist, wo damals bereits ihre Schwester lebte. Isabella selbst lebte damals noch als Mann, arbeitete in der Gastronomie. Doch sei ihr in der Schweiz ihre weibliche Identität immer klarer geworden. «In meinem Dorf in Ungarn existierte so etwas gar nicht.» Isabella begann während ihrer Transition mit Escort. Sie sagt, das habe ihr damals Schutz geboten. «Ich war ja noch sehr unsicher mit meinem Äusseren und hatte Hemmungen, mich etwa in einem Café zu bewerben. In der Sexarbeit konnte ich mich als Frau ausprobieren und wurde als trans Person nicht verurteilt.» Die Kunden hätten ihre Fantasien mit ihr ausgelebt. «Ihr Begehren hat mich darin bestätigt, dass ich auf dem richtigen Weg bin.»
Isabellas Reise hat auch Abgründe. Sieben Jahre lang habe sie jeden Tag Crystal Meth konsumiert. «Das hebt den Sex auf ein komplett neues Level, aber du realisierst nicht, wie schnell du abhängig wirst.» Heute ist die Enddreissigerin clean, sie arbeitet in einem Hotel, das auch Zimmer an Sexarbeiter:innen vermietet. Ihr mache es Spass, die Frauen zu begleiten und ihnen mit Ratschlägen zur Seite zu stehen, sagt sie. Sexarbeit, findet Isabella, müsse wie jede andere Branche behandelt werden. Auch sie selbst will nicht ganz mit der Sexarbeit aufhören. «Ich habe immer noch ein paar Kunden, mit denen ich inzwischen eine freundschaftliche Beziehung pflege, für die ich mich auch verantwortlich fühle.»
Die meisten Sexarbeiter:innen wurden in diesem Artikel anonymisiert. In drei Fällen hat die WOZ eine Ausfallentschädigung bezahlt, um ein Gespräch zu ermöglichen.