Der «Tagi» und die Cancel Culture

In insgesamt 144 Artikeln war der Begriff «Cancel Culture» gemäss der Schweizer Mediendatenbank bis zum 24.03.2023 im «Tages-Anzeiger online» aufgetaucht. Und die Zahl ist seit dem vergangenen Freitag noch einmal angestiegen. Aber nicht etwa, weil am Wochenende unliebsame Redner:innen ausgeladen, Künstler:innen zensiert oder kurzfristig Veranstaltungen abgesagt worden wären. Nein, allein deswegen, weil die «Tages-Anzeiger»-Redaktion mit einem «Cancel Culture»-Special aufgefahren ist. Ein anderer Anlass für den Anstieg ist schlicht nicht auszumachen.

Als vorgeschobener Anlass für die Berichterstattung diente eine Umfrage, die die Redaktion im Januar und Februar gleich selbst durchgeführt hat. 3425 Uniprofessor:innen wurden angefragt, gerade mal 542 von ihnen haben den Fragebogen ausgefüllt. Die Umfrage sei nicht repräsentativ, liefere aber ein Stimmungsbild zur Befindlichkeit, steht im Artikel. Der renommierte Cancel-Culture-Experte Adrian Daub ordnet die Resultate der Umfrage fachgerecht ein. Die Zahlen und Daub zeichnen ein klares Bild: An Schweizer Universitäten hat offenbar niemand das Gespenst Cancel Culture gesichtet. Auch der einordnende Kommentar zur Umfrage muss ohne Umschweife festhalten: «So etwas wie eine Cancel Culture existiert an hiesigen Hochschulen nicht.»

Dennoch folgte gestern Abend umgehend ein weiterer Artikel mit gleich vier Gastbeiträgen die der Umfrage diametral widersprechen, allerdings ohne stichhaltige Belege zu liefern. «Ich nehme die Bedrohung durch Cancel Culture als real wahr», sagt da etwa ein Professor – und liefert damit gleich den Titel des Artikels. Der Umfrage war bereits letzte Woche ein ähnlicher Artikel vorausgegangen, in dem vier Kulturschaffende ihre Erfahrungen mit Cancel Culture reflektiert hatten.

Keine Angst: Es bleibt nach wie vor erlaubt, auch über Dinge zu reflektieren und zu schreiben, die gar nicht existieren. Wer wäre ich, um das zu verurteilen? Doch Phänomene so lange herbeizuschreiben, bis sie die ganze Diskussion dominieren, und dabei sogar die eindeutigen Ergebnisse von Umfragen, die man selber durchgeführt hat, einfach zu ignorieren, ist nochmals eine andere Liga. Wem soll das dienen?

Fakten, Fakten, Fakten: Der Oberleguan rückt die Dinge zurecht.