Literatur: Vom Schmerz, der bleibt
Chimamanda Ngozi Adichie hat ein furchtloses Epos über weibliche Körper, zerstörte Träume und westliche Doppelmoral geschrieben. Wer glaubt, Erfolg schütze vor Unterdrückung, wird in «Dream Count» eines Besseren belehrt.

Zwölf Jahre nach «Americanah» meldet sie sich zurück. Weg war Chimamanda Ngozi Adichie aber sowieso nicht. Die US-amerikanisch-nigerianische Autorin ist nach ihrem dritten Roman, der sie zum Weltstar machte, längst zur feministischen Ikone und zur Identifikationsfigur der Black-Pride-Bewegung geworden. So tritt sie auch mal als Gesprächspartnerin von Michelle Obama auf, und ihr Ted-Talk «We Should All Be Feminists» zählt auf Youtube über acht Millionen Aufrufe. Entsprechend hoch waren die Erwartungen an ihr neustes Buch, das, seit es Anfang März erschienen ist, enthusiastisch besprochen wird.
Der Titel «Dream Count» spielt auf den Begriff «Bodycount» an, mit dem in sozialen Medien auf die Anzahl Sexpartner:innen verwiesen wird. Hier aber geht es um Träume, die an der Realität zerschmettern. Im isolierten Setting der Covid-Pandemie in den USA lässt Adichie die Reiseschriftstellerin Chiamaka feststellen: «Ich habe mich immer danach gesehnt, von einem anderen Menschen erkannt zu werden, wirklich erkannt.» In Zoom-Gesprächen mit ihren Freundinnen reflektiert Chiamaka ihre vergangenen Liebesbeziehungen. Ihr virtuell gegenüber sitzen Zikora, Anwältin in Washington, D. C., frisch Mutter geworden, der Erzeuger will nichts vom Kind wissen; und Cousine Omelogor, die als Bankerin in Nigeria Milliardenbeträge verschiebt.
Alle drei sind um die vierzig, reiche Kosmopolitinnen und Mitglieder wohlsituierter nigerianischer Familien. Und sie gelten in den Augen Letzterer als gescheitert: Beendete Liebesbeziehungen, ausbleibende Hochzeiten und Kinder attestieren scheinbar die Unvollkommenheit ihrer Lebensentwürfe. «Tu nicht so, als wärst du zufrieden mit deinem Leben», sagt Omelogors Tante an einer Stelle.
Territorien der Gewalt
Einen Kontrast zum Upper-Class-Leben der drei bildet die Realität Kadiatous. In Guinea geboren, flüchtete sie mit ihrer kleinen Tochter in die USA und arbeitet als Reinigungsfachkraft in einem Luxushotel – sowie gelegentlich als Haushälterin bei Chiamaka.
Adichie zeigt die Körper dieser vier Frauen, deren Namen die Kapitel und Perspektiven des Buches gliedern, als Orte, an denen sich gesellschaftliche Gewalt manifestiert. Das tritt offensichtlich und brutal zutage, wenn Kadiatou beschnitten wird; subtiler, wenn es Zikora nicht erlaubt ist, unter den Schmerzen der Geburt zu schreien, weil eine Frau «anmutig» zu sein hat. Die Mannigfaltigkeit körperlichen Missbrauchs erreicht ihren grässlichen Höhepunkt, als Kadiatou von einem Hotelgast vergewaltigt wird. Während sie ihre reichen Bekannten drängen, die Tat anzuzeigen, möchte Kadiatou davon absehen. Sie fürchtet sich vor dem, was ihr schliesslich doch widerfährt: In den Augen der Staatsanwaltschaft ist die Aussage einer mittellosen, westafrikanischen «Arbeitsmigrantin» nichts wert.
Kadiatous Figur hat Adichie angelehnt an Nafissatou Diallo, die 2011 aussagte, der damalige Direktor des Internationalen Währungsfonds, Dominique Strauss-Kahn, habe sie zu vergewaltigen versucht. Ein Fall, der Adichie – wie sie im Nachwort schreibt – nicht mehr losgelassen hat. Diallo wurde zunächst öffentlich durch den Dreck gezogen, ehe man das Verfahren einstellte. In den USA erklärten sich damals zwar viele Feminist:innen solidarisch mit ihr, doch nur wenige engagierten sich darüber hinaus konkret für die Rechte von Hotelangestellten.
Auf Männer fixiert
Adichie will viel. In ihrem 500-seitigen Epos verhandelt sie ökonomische Ungleichheit, Rassismus, Postkolonialismus, sexualisierte Gewalt, Sisterhood, Korruption, das schreiende Vakuum männlichen Mitgefühls – und dröselt auf, wie all das zusammenhängt. Immer wieder findet sie ausgeklügelte dramaturgische Kniffe, um Machtdynamiken doppelbödig zu inszenieren: Die Bankerin Omelogor, die in ihrem männlich konnotierten Beruf selbst zur Profiteurin eines korrupten Systems geworden ist, beginnt irgendwann, von den Konten ihrer Kunden Beträge abzuzweigen, um ökonomisch schwächer gestellten Frauen weltweit zinsfreie Kredite gewähren zu können. Es ist jenes «dreckige» Geld, das Kadiatou als Absicherung auf ihrem Konto liegen hat – und das sie nach der Vergewaltigung angreifbar macht.
Der Wermutstropfen: Ermüdend bleibt, wie sehr die Protagonistinnen in ihrem Handeln und Denken auf stereotype Männerfiguren ausgerichtet sind. Die erzählerische Dynamik entfaltet sich bei drei der vier Hauptfiguren nahezu ausschliesslich im Verhältnis zu diesen. Schon Adichies letzter Roman, «Americanah», die Geschichte eines Liebespaars aus Nigeria, das auf getrennten Wegen in den Westen gelangt, litt zuweilen unter dieser Fixierung. In «Dream Count» existieren Männer zwar «nur» als Reue, Erinnerung oder leere Versprechen. Und nehmen doch unangenehm viel Raum ein. Das Pathos, mit dem Adichie über die unerfüllte, heteronormative Liebe schreibt, wirkt stellenweise larmoyant und abgedroschen.
Deutlich faszinierender ist ihre Kritik an westlich-«progressiven» Diskursen. Omelogor, die – ob um vor ihren Geschäften oder einer Sinnkrise zu fliehen – in den USA «Pornografie» studiert, erlebt dort eine moralische Engführung. Und spricht auch mal von US-Amerikaner:innen, die von den eigenen Gewissheiten «besoffen» sind. Solche Perspektivenwechsel machen «Dream Count» kostbar. Die zerschmetterten Liebesträume finden wir auch anderswo.
Chimamanda Ngozi Adichie: «Dream Count». Roman. Aus dem Englischen von Asal Dardan und Jan Schönherr. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2025. 528 Seiten.
Chimamanda Ngozi Adichie liest am 12. Juli am Literturfestival Zürich. www.literaturhaus.ch