Durch den Monat mit Shpresa Jashari (Teil 4): Was muss sich ändern, damit Sie hier mitdiskutieren können?
Shpresa Jashari findet, es sei eine grosse Chance, den nationalen Rahmen von Debatten und Wahrnehmungen zu sprengen. In einer globalisierten Welt brauche es globalisierte Stimmen.

WOZ: Shpresa Jashari, Sie sagten im letzten Interview, dass Ihnen der sichere Rahmen fehle, um in öffentliche Debatten wie etwa jene zu «Köln» einzusteigen. Was muss sich ändern, damit Sie mitdiskutieren können?
Shpresa Jashari: Es gibt einen dominanten öffentlichen Diskurs, der erst mal jede Person in einem nationalen Narrativ verortet. Sprengt jemand diesen nationalen Rahmen, weil sein Leben und seine Realität transnational funktionieren, kommt sofort das Etikett «weder hier noch dort zu Hause». Da herrscht die Vorstellung von «vollwertigen» Schweizern auf der einen Seite und von Personen, die wegen ihrer Bezüge zu anderen Orten nur so halb dazugehören, auf der anderen Seite. Diese Kategorisierung verpasst komplett das Potenzial, das in solchen Biografien liegt. Denn aus meiner Sicht könnte man diese Leute auch ganz anders wahrnehmen: als Experten der heutigen globalisierten Welt.
Und worin besteht diese Expertise genau?
Zurzeit ist überall die Rede von «westlichen Werten» oder der «europäischen Kultur», die es zu bewahren gelte. Gemeint sind damit oft die Demokratie, die Gewaltenteilung, die Menschenrechte oder auch der Schutz von Minderheiten. Ein ganz grosser Teil der Leute, die nach Europa kommen, sind genau wegen dieser Werte hier oder, besser gesagt, wegen der Gesetze und Rechte, in denen diese Werte sich verfestigen.
Heute bilden Menschen aus Sri Lanka, dem Kosovo oder der Türkei einen wichtigen Teil der Schweizer Bevölkerung. Viele von ihnen sind hierhergekommen, weil ihnen diese fundamentalen Rechte in ihren Herkunftsländern verwehrt wurden. Sie wissen also ganz genau, welchen Stellenwert die Demokratie hat, wie wichtig Mitbestimmung oder Minderheitenschutz sind. Und ausgerechnet diesen Leuten wird heute unterstellt, sie würden die europäischen Werte bedrohen. Da geht extrem viel verloren.
Können Sie ein Beispiel geben, in welcher Debatte etwas verloren geht?
Die grossen Herausforderungen unserer Zeit wie der Klimawandel, global agierende Konzerne oder die Migration stehen allesamt in einem transnationalen Zusammenhang. Aber viele Diskussionen über diese Themen bleiben in nationalen Grenzen gefangen.
Nehmen wir das Beispiel der Kleiderherstellung. Da ist so langsam ein Bewusstsein entstanden, dass die Arbeitsbedingungen in den Herstellungsländern nicht optimal sind, aber unsere Empörung beziehungsweise unsere Solidarität reichen nicht über den kurzen Schock hinaus, wenn in Bangladesch eine Fabrik einstürzt. Für eine junge Schweizerin, deren Tante in Bangladesch lebt und in genau so einer Fabrik arbeitet, ist diese jedoch ganz nah. Sie kennt beide Seiten der Geschichte aus nächster Hand. Diese Position hat das Potenzial, die Komplexität und die Widersprüchlichkeiten aus einer Warte zu erfassen, die beide Seiten verbindet. Das ist eine extrem wertvolle Ergänzung zur Globalisierung von Märkten und Krisen. So kann eine globalisierte Solidarität entstehen, wenn man so will. Nur schaffen es Leute wie diese junge Frau nicht so leicht an die Öffentlichkeit.
Wo werden solche Stimmen hörbar?
In der Literatur zum Beispiel. In den USA oder Britannien gibt es Schriftstellerinnen wie Chimamanda Ngozi Adichie, Taiye Selasi oder Jhumpa Lahiri, die sehr feinfühlig über transnationale Lebensrealitäten schreiben.
Ngozi Adichie schreibt etwa darüber, wie sie in den USA entweder als Afroamerikanerin oder als arme Afrikanerin wahrgenommen wird. Das sind dort die pauschal vorhandenen Rollen für schwarze Frauen. Dabei treffen beide nicht zu. Der Autorin fehlen die afroamerikanischen Erfahrungen der Sklaverei und der Ghettoisierung, und sie war in ihrem Herkunftsland Nigeria ökonomisch und bildungsmässig bessergestellt als die meisten, die sie in den USA als arme Afrikanerin wahrnahmen. Ngozi Adichie zeigt an Alltagsdingen auf, wie sich diese Pauschalisierung durch den weissen Blick konkret äussert: Wer etwa in der Geschäftswelt als professionell wahrgenommen werden will, sollte sich die Haare glätten. Auf der anderen Seite zeichnet sie ein ebenso differenziertes Bild von Nigeria, mit mehreren Schichten, verschiedenen Interessen, Religionen, Genderrollen, Generationen. Durch diese Nuancierungen können neue Verbindungen und Sichtweisen entstehen, die pauschale Diskurse wie denjenigen über «den Westen» durchbrechen.
Zum Schluss möchte ich nochmals an unser erstes Interview anknüpfen: Sie haben damals den Kongress «Wir alle sind Zürich» erwähnt, den Sie mitorganisiert haben. Wie ist der Kongress eigentlich verlaufen?
Sehr gut! Es sind sehr viele Leute, rund 500, in der Zürcher Shedhalle zusammengekommen. Leute, die nicht mehr einfach hinnehmen wollen, dass eine Initiative nach der anderen kommt, die unsere Rechte und unsere Teilhabe einschränkt.
Dieser Wille ist zurzeit in der Zivilgesellschaft stark spürbar. Viele haben offenbar das Gefühl, dass die Parteien und die staatlichen Institutionen nicht das liefern, was wir wollen, was unserer Vorstellung von Gesellschaft entspricht. Nun müssen wir selber etwas machen, uns selber zu Wort melden.
Die Sozialwissenschaftlerin Shpresa Jashari ist auch Expertin für Turnschuhpsychoanalyse. Um der gesellschaftlichen Marginalisierung zu entgehen, sollten Sie auf die richtige Marke, Farbe und Abgetragenheit Ihres Schuhwerks achten.