Das Brandmäuerchen ist passé
Zwei Ereignisse folgten am Mittwoch im Deutschen Bundestag aufeinander, die unvereinbar sein sollten. Zunächst sprach vor Regierung, Parlamentarier:innen und Gästen im Rahmen einer Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus der ukrainische Holocaust-Überlebende Roman Schwarzman. Nur wenige Stunden später waren die Abgeordneten der extrem rechten AfD, jener Partei, die in der Naziherrschaft einen historischen Fliegenschiss sieht, die strahlenden Sieger:innen des Tages. Nachdem die Ergebnisse einer Abstimmung über einen von der Union eingebrachten Antrag verkündet worden waren, trat AfD-Mann Bernd Baumann ans Redner:innenpult und sagte: «Das ist wahrlich ein historischer Moment. Jetzt und hier beginnt eine neue Epoche, und die führen wir an.»
Was war geschehen? Um ein migrationspolitisches Papier durchzubringen, haben sich Union und FDP – ermöglicht durch die Enthaltungen des Bündnisses Sahra Wagenknecht – erstmals in der Geschichte des Bundestages sehenden Auges mit Stimmen der AfD eine Mehrheit beschafft. Etwas, das Friedrich Merz, der Kanzlerkandidat der Union, vor kurzem noch ausgeschlossen hatte. Der beschlossene «Fünf-Punkte-Plan» enthält unter anderem das Bekenntnis zur Zurückweisung von Asylsuchenden an den deutschen Grenzen und wendet sich damit gegen eine Grundidee des Rechts auf Asyl, dessen Aufnahme ins deutsche Grundgesetz einst eine Lehre aus dem Holocaust war und das seitdem bereits stark eingeschränkt worden ist. Allerdings ist das beschlossene Papier kein Gesetz – ein solches, das ebenfalls von der Union eingebrachte «Zustrombegrenzungsgesetz», könnte jedoch am Freitag wiederum nur mit den Stimmen der extremen Rechten beschlossen werden.
Die Vorgänge stellen einen Tabubruch dar, eine weitere Hürde, die auf dem Weg zur direkten Zusammenarbeit zwischen Union und AfD abgebaut wurde. Viele Kommentator:innen sprechen nun davon, dass die Brandmauer eingerissen worden sei, allerdings: Die war höchstens noch ein Brandmäuerchen. Daran, sie abzutragen, haben in den vergangenen Jahren viele mitgewirkt.
Denn es gehört auch zur politischen Realität Deutschlands, dass die Normalisierung der AfD, ihrer Sprache und ihres Programms nicht erst gestern und nicht plötzlich und nicht allein auf Initiative von Friedrich Merz begonnen hat. Alle Parteien – mit Ausnahme der Linkspartei – haben in den zurückliegenden Jahren immer schärfere migrationsfeindliche Töne angeschlagen und Überlastungsängste geschürt, statt echte soziale Probleme, etwa den Mangel an bezahlbarem Wohnraum, anzugehen. Der sozialdemokratische Kanzler Olaf Scholz kündigte im Herbst 2023 «Abschiebungen im grossen Stil» an, Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck erklärte erst kürzlich, Syrer:innen, die nicht arbeiteten, müssten Deutschland verlassen; die rot-grün-gelbe Ampelregierung hat in den zurückliegenden drei Jahren mehrfach Asylrechtsverschärfungen durchgesetzt.
Sie alle haben mit dazu beigetragen, in Deutschland eine Stimmung des Notstands anzuheizen, in der Friedrich Merz überhaupt erst annehmen konnte, es würde sich lohnen, einen Doppelmord im bayerischen Aschaffenburg schamlos zu Wahlkampfzwecken zu missbrauchen – und dafür nicht nur sein Wort, sondern eben auch ein parlamentarisches Tabu zu brechen.