Deutschland vor der Wahl: Doch lieber Dschungelcamp
Immer wieder Migration: Das Hauptthema des deutschen Wahlkampfs hat seinen Zweck erfüllt. Über die eigentlichen Ursachen der gesellschaftlichen Dysfunktionalitäten in Deutschland wurde kaum gesprochen.
Sonntag in Berlin-Kreuzberg, Mitte Februar 2025. Zwei Wochen bis zur Bundestagswahl. Am Mehringplatz, wo ein heruntergekommenes Siebziger-Jahre-Wohnviertel das südliche Ende der mondänen Friedrichstrasse markiert, eilen nur wenige Menschen geduckt durch den eisigen Wind. Die meisten sitzen drinnen, vor der Glotze. Viele schauen türkische oder arabische Sender, andere das RTL-«Dschungelcamp». Kaum jemand verfolgt das bizarre Vorwahlspektakel, das die öffentlich-rechtlichen Sender seit Wochen bieten. Dabei haben rund siebzig Prozent meiner Nachbarschaft einen «Migrationshintergrund», wie man so unschön sagt, und Migration ist das Hauptthema all der Debatten, die auf ARD und ZDF laufen. Politiker:innen aller grösseren Parteien überbieten sich mit immer radikaleren Vorschlägen, wie man Migration künftig bremsen, gänzlich stoppen oder gar rückabwickeln kann. Wie sich mehr Menschen abschieben lassen, zur Not auch in islamistische Diktaturen. Dann doch lieber «Dschungelcamp».
Noch vor Jahresfrist waren Hunderttausende zu «Demos gegen rechts» auf die Strasse gegangen, weil sich Abgeordnete von AfD und CDU vom österreichischen Rechtsextremisten Martin Sellner über Konzepte zur «Remigration» beraten liessen. Aufgerufen zu den Demos hatten zahllose zivilgesellschaftliche Vereine, die christlichen Kirchen, der Zentralrat der Juden, Gewerkschaften, Migrant:innenverbände. Auch viele Politiker:innen aus Regierung und Opposition beteiligten sich. Nicht mal die CDU wollte da zurückstehen. Ein «ermutigendes Zeichen» für Demokratie, Toleranz und Zivilcourage erkannten nicht nur die eher liberalen CDU-Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, Hendrik Wüst und Daniel Günther, in den Protesten. Selbst Friedrich Merz, inzwischen Kanzlerkandidat der Unionsparteien, äusserte sich gleichlautend auf X.
Knallige Themen, tief sitzende Ängste
Nun, ein Jahr später, ist es derselbe Friedrich Merz, der Menschen mit doppelter Staatsangehörigkeit den deutschen Pass entziehen möchte, sofern sie straffällig werden, wofür dreimaliges Schwarzfahren ausreicht. Verfassungskonform ist das nicht, aber juristische Bedenken scheren Merz so wenig wie die von ihm selbst jahrelang proklamierte «Brandmauer» gegen die – laut Verfassungsschutzeuphemismus – «in Teilen rechtsextreme» AfD. Das zeigte sich, als er kürzlich einen «5-Punkte-Plan für sichere Grenzen und das Ende der illegalen Migration» in den Bundestag einbrachte. Wohl wissend, dass er für diesen Antrag – neben den Stimmen der eigenen Fraktion und der FDP – auch die der AfD und des in Migrationsfragen wie in der unverhohlenen Putin-Begeisterung ähnlich positionierten Bündnisses Sahra Wagenknecht brauchen und bekommen würde.
Nicht erwartet hatte er vielleicht, dass sich die beiden grossen christlichen Kirchen deshalb gegen seine – zumindest dem Namen nach – christliche Partei wenden und erneut grosse «Demos gegen rechts» durchs Land ziehen würden. Schliesslich wollte er seine (weitgehend von der AfD übernommenen) migrationsfeindlichen Ideen doch als Massnahme gegen den wachsenden Rechtsextremismus im Land verstanden wissen. Umso dankbarer dürfte er gewesen sein, als ihm das rechtspopulistische «Nachrichtenportal» nius.de und die «Bild» Schützenhilfe leisteten, indem sie verbreiteten, dass vor Jahresfrist noch so gefeierte Demo-Organisatoren wie die Omas gegen Rechts oder der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland staatliche Fördergelder bekämen und mithin eine Art fünfte Kolonne eines linken Establishments seien.
Merz nahm dieses klassische AfD-Narrativ gerne auf und liess seinen Fraktionsvize den an den Protesten beteiligten Vereinen gleich mal mit dem Entzug der Gemeinnützigkeit drohen. Mag es noch so absurd scheinen, ausgerechnet die CDU/CSU, die in 52 von insgesamt 75 Jahren BRD-Geschichte Kanzler oder Kanzlerin stellte, zur Anti-Establishment-Partei zu erklären. Den Republikaner:innen unter Trump ist das schliesslich auch gelungen. Was es dafür braucht, so die Lehre aus den USA, sind nur ein paar knallige Themen, die an tief sitzende Ängste grösserer Teile der Bevölkerung rühren – und somit geeignet sind, die Verantwortung für reale gesellschaftliche Missstände kleineren Teilen der Bevölkerung zuzuschreiben. Die Themenpalette selbst ist schnell umrissen: «faule Arbeitslose», «Klimawahn», «Gender-Sprache», angeblich verbotsgeile Klimaschützer:innen und immer wieder – Migration.
Natürlich, wäre alles im Lande zum Besten bestellt, würde nichts davon bei der Mehrheit der Bevölkerung verfangen. Aber so ist es nicht. Ob Post oder Bahn, Strassen- oder Wohnungsbau, Gesundheits- oder Bildungssystem – nichts funktioniert mehr. Für einen neuen Pass oder Führerschein muss man monatelange Wartezeit einkalkulieren, bis zum Facharzttermin kann locker ein halbes Jahr vergehen. Jedenfalls für gesetzlich Krankenversicherte. Privatversicherte, also wohlhabende Selbstständige, Manager und Beamtinnen, werden oft noch am selben Tag versorgt. Der Lehrer:innenmangel an staatlichen Schulen ist so gross, dass man inzwischen versucht, jeden, der mal irgendwann irgendwas studiert hat, mit den Vorteilen des Beamtenstatus in den Schuldienst zu ködern. Gleichzeitig prosperieren Privatschulen für die Besserverdienenden.
Irrglaube an den freien Markt
Wer hingegen bislang auch mit geringerem Einkommen ein halbwegs kommodes Leben führte, muss mittlerweile Butter- und Brotpreise vergleichen. Die Inflation hat die Lebenshaltungskosten massiv verteuert, Wohnungsmangel zu rasant steigenden Mieten geführt und so weiter. Die Mängelliste liesse sich noch lange fortsetzen, Lösungen sind nicht in Sicht. Zumal auch die Wirtschaft schwächelt, es überall an Fachkräften und Know-how fehlt.
Was genau das alles mit Migrant:innen, Langzeitarbeitslosen oder LGBTIQ+-Aktivist:innen zu tun hat? Ursächlich gar nichts. Aber wenn es an Lösungen fehlt, braucht es eben Schuldige, auf die sich der Volkszorn lenken lässt – gesellschaftliche Minderheiten, deren Lebensführung nicht jener Schimäre von «Normalität» entspricht, die der Mehrheit in unsicheren Zeiten Halt verspricht. Die eigentliche Ursache für all die gesellschaftlichen Dysfunktionalitäten hingegen, der Neoliberalismus, bleibt sakrosankt. Schliesslich haben sich alle grossen Parteien seit den neunziger Jahren dem Irrglauben verschrieben, der «freie Markt» könne vormalige staatliche Kernaufgaben effektiver bewältigen. Dabei ist es offensichtlich, dass etwa Bahn und Post als Staatsbetriebe zuverlässiger und günstiger waren, dass das Verramschen kommunaler Liegenschaften keinen bezahlbaren Wohnraum geschaffen hat und es überhaupt ein Irrwitz ist, systemrelevante Infrastrukturen dem Profitinteresse privater Unternehmen zu unterwerfen.
Wenn die Regierung dann noch, wie 2009 im Zuge der Finanzkrise geschehen, sich nicht nur auf eine rigide Schuldenbremse verständigt, sondern diese ernsthaft im Grundgesetz festschreibt, ist der Staat nicht mal mehr in der Lage, mittels Investitionen einzugreifen, obwohl genau das auch ein probates Mittel wäre, der kriselnden Wirtschaft Anschubhilfe zu leisten.
Also muss man der Bevölkerung die Geschichte verkaufen, die Staatsfinanzen liessen sich sanieren, indem man der prozentual irrelevanten Gruppe von tatsächlichen Arbeitsverweiger:innen die Grundsicherung streicht und Flüchtlinge an der Grenze zurückweist. In Wirklichkeit aber betreibt man eine Art Flucht nach vorn, indem man zunehmend rechtslibertäre Ideen übernimmt: weitere Senkung von Unternehmenssteuern und Spitzensteuersatz, Rücknahme von Klimaschutzmassnahmen und Streichung von Geldern für Kultur, Bildung und Soziales. Im direkten Gegensatz zur linkslibertären Idee der «Befreiung der Gesellschaft vom Staat» (Erich Mühsam) betreibt man somit, ganz im Sinne der neuen Trump-Regierung, letztlich die Befreiung des Kapitals von der Gesellschaft.
Es ist also nicht nur reine Rhetorik, wenn der FDP-Vorsitzende Christian Lindner «mehr Milei und Musk wagen» möchte, Merz von Dekreten träumt, die er gleich nach Amtsantritt erlassen will (wozu ein Bundeskanzler im Gegensatz zum US-Präsidenten gar nicht befugt ist). Oder wenn selbst der grüne Kanzlerkandidat Robert Habeck über das Lieferkettengesetz, das Klima und Menschenrechte schützen sollte, sagt, er habe vor, «die Kettensäge anzuwerfen und das ganze Ding wegzubolzen».
Dass all dieses Anwanzen an rechtsextreme Narrative inklusive weitreichender Abkehr von ökologischen und sozialen Perspektiven den Aufstieg der AfD nicht bremst, sondern weiter beschleunigt, wird beim Blick auf die Meinungsumfragen offensichtlich. In Ostdeutschland wird die Partei wohl fast alle Direktmandate erringen. Zudem drängt die rechtslibertäre Trump-Regierung immer offensiver auf eine Regierungsbeteiligung der AfD und nutzt zum Erreichen dieses Ziels nicht nur ihre wachsende Hegemonie in den sozialen Medien, sondern übt zugleich starken wirtschaftlichen Druck aus, um die politische Lage in Deutschland und der EU zu destabilisieren. Mag die deutsche Politik noch so sehr gegen solche Einmischungsversuche wettern, mit seinem Migrationspapier hat Merz den Türspalt für eine Koalition der Unionsparteien mit der AfD bei der nächsten Wahl bereits deutlich vergrössert. Jenseits des Atlantiks wird man das als Kapitulation auf Raten verbuchen.
Wen bloss wählen?
Zurück an den Kreuzberger Mehringplatz. Ende Februar, nur wenige Tage noch bis zur Bundestagswahl. Inzwischen steht auch hier bei allen Gesprächen unter Nachbar:innen die Frage im Raum, wen man wählen solle, um das Schlimmste zu verhüten. Die Antwort fällt auch deshalb schwer, weil nichts von dem, was die Wahlkämpfer:innen so von sich geben, konkret mit der Abwärtsspirale zu tun hat, in der sich der Kiez seit Jahren befindet. Die Probleme hier sind noch Effekte des klassischen Neoliberalismus. Die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften zum Beispiel, die ihre Häuser verfallen lassen, seit sie gewinnorientiert arbeiten müssen. Oder die verfallende einzige Jugendfreizeiteinrichtung in diesem doch so kinderreichen Quartier, deren Sanierung gerade auf 2032 verschoben wurde. Oder die rasante Gentrifizierung der umliegenden Viertel, die den Bewegungsradius der Schmuddelkinder vom Mehringplatz zunehmend einengt. Wie soll das erst werden, wenn die nächste Regierung den Weg einschlägt, den Trump und die AfD vorgeben, und die Kettensäge anwirft?
Vorm türkischen Backshop an der Friedrichstrasse überlegt ein in bunte Schals und Mützen gemummeltes Ehepaar um die siebzig, wen man wählen könnte. Die Linkspartei vielleicht, die laut letzten Umfragen doch wieder in den Bundestag einziehen könnte? Immerhin ist auf die migrationspolitisch Verlass. Wären da nur nicht ihr Rumeiern bezüglich der Waffenlieferungen an die Ukraine und die fehlende Abgrenzung von linken Antisemit:innen, wegen der zuletzt sogar mehrere prominente Politiker:innen ihren Austritt erklärten. Vielleicht doch eher eine Partei, die die Chance hat, mit der Union zu koalieren und dadurch wenigstens die Geschwindigkeit der Disruption von Staat und Gesellschaft zu drosseln.
«Ist doch absurd», sagt der Mann. «Unser ganzes Leben lang waren wir gegen dieses alles korrumpierende Dreckssystem, heute sind wir die Letzten, die es verteidigen. Macht uns das jetzt zu Konservativen?» Seine Frau lacht. Die beiden arabischstämmigen Frauen am Nebentisch sagen nichts. Zwar leben sie seit über zehn Jahren hier, sprechen fliessend Deutsch und engagieren sich ehrenamtlich in diversen Nachbarschaftsinitiativen. Aber das heisst ja noch lange nicht, dass sie einen Pass haben und wählen dürfen. Nicht in diesem Land.
Markus Liske (58) veröffentlichte zuletzt den Roman «Glücksschweine», in dem er sich mit den Neunzigern als historischer Leerstelle befasste, sowie die literarische Montage «Sechs Tage im April. Erich Mühsams Räterepublik». Mit Manja Präkels betreibt Liske die «Gedankenmanufaktur Wort & Ton», die auch zwei Sammelbände gegen Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland herausgegeben hat.