Wahl in Deutschland: Sieg, Niederlage, Patt

Nr. 6 –

CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz hat mithilfe der AfD einen Antrag durchs Parlament gebracht – und dafür ein Tabu gebrochen. Aber welche Folgen hat das?

«Wir sind die Brandmauer», schallte es letztes Wochenende auf Demonstrationen überall in Deutschland – allein in Berlin kamen 200 000 zu einem «Aufstand der Anständigen», landesweit protestierten mehr als eine halbe Million Menschen. Vor einem Jahr hatte es bereits eine ganz ähnliche, durch eine Recherche über Deportationspläne der extrem rechten AfD ausgelöste Bewegung gegeben. Diesmal aber wurden die Demos durch Vorgänge losgetreten, die sich im Bundestag abspielten. Und sie haben eine klare Adressatin: die CDU.

Auf Initiative ihres Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten Friedrich Merz hat die Partei die Republik in Aufregung versetzt. Nach einem Doppelmord im bayerischen Aschaffenburg, wo ein Geflüchteter am 22. Januar eine Kindergartengruppe angegriffen, zwei Menschen getötet und mehrere verletzt hatte, beendete Merz von einem Tag auf den anderen seinen bis dahin recht lahmen «Wirtschaftswahlkampf» für ein anderes Motto: die Begrenzung der Migration mit allen Mitteln.

Mit trumpscher Geste kündigte er an, ab dem ersten Tag seiner Kanzlerschaft alle Personen ohne gültige Papiere, auch Asylsuchende, an den deutschen Grenzen abzuweisen; Kompromisse beim Thema Migration seien nun nicht mehr möglich. Und er änderte im Umgang mit Rechtsaussen einen Kurs, den er selbst kürzlich noch bekräftigt hatte. Im November hatte Merz den anderen Parteien im Bundestag einen Pakt vorgeschlagen: Absprachen immer so zu treffen, dass es niemals – nicht einmal bei Tagesordnungsanträgen – zu Zufallsmehrheiten mit der AfD kommen könne.

Brandmauer passé

Nur wenige Wochen später ist das Schnee von gestern: Am 29. Januar brachte die Union zwei Anträge in den Bundestag ein, darunter den «Fünf-Punkte-Plan», der etwa dauerhafte Kontrollen an allen Grenzen und eine drastische Ausweitung der Ausschaffungshaft fordert. Zum Erfolg verhalfen dem Ansinnen die Stimmen von FDP und AfD – und die Enthaltung des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW). Zwar ist es rechtlich nicht bindend, symbolisch aber ungeheuer wichtig. Insbesondere für die AfD: Zum ersten Mal in der Geschichte des Bundestags hat sich die Union von der extremen Rechten eine Mehrheit verschaffen lassen.

Zwei Tage später wollte sie das wiederholen, diesmal mit einem Gesetzesentwurf, der den Familiennachzug für Geflüchtete stark beschnitten und die Beschränkung der Migration wieder als Ziel im Aufenthaltsgesetz verankert hätte. Dieses «Zustrombegrenzungsgesetz» hatte die CDU bereits vergangenen September dem Bundestag vorgelegt, von dort war es weiter in den Innenausschuss gewandert. Nach dem Doppelmord in Aschaffenburg hatte die AfD angekündigt, das Gesetz erneut in den Bundestag zu bringen – dem kam die CDU zuvor.

In einer denkwürdigen Sitzung, in der es stundenlang darum ging, ob über das Gesetz überhaupt abgestimmt werden sollte, wurde der Entwurf schliesslich abgelehnt. Anders als am Mittwoch hatten diesmal neben der AfD zwar die Abgeordneten des BSW dafür gestimmt, bei CDU und FDP aber fehlten mehr Mandatsträger:innen als zwei Tage zuvor, zudem votierten zwei FDPler:innen mit Nein, sodass es am Ende knapp nicht reichte. Dennoch: Merz hat zweimal in einer Woche die bis dahin tabuisierte Kooperation mit der AfD herbeigeführt. Damit ist die gern zitierte «Brandmauer» – der Konsens der Parteien, die AfD von Mehrheitsfindungen im Bundestag auszuschliessen – passé.

Proteste und Austritte

Die Umstände, unter denen diese als «historisch» bezeichneten Abstimmungen überhaupt stattfinden konnten, sind für die Bundesrepublik bislang untypisch. In der Regel verfügt eine Regierungskoalition im Bundestag nämlich über eine feste Mehrheit. Seit dem vorzeitigen Ampel-Aus haben die Nochregierungsparteien SPD und Grüne jedoch keine eigene Mehrheit mehr – was andere Allianzen möglich macht. Etwa wenn CDU, AfD und die aus der Regierung ausgeschiedene FDP gemeinsam stimmen.

Dass diese neue Mehrheit ebenfalls prekär ist, verdeutlichten die Vorgänge zwischen den beiden Abstimmungen von letzter Woche. Exkanzlerin Angela Merkel nannte Merz’ Vorgehen in einer für sie aussergewöhnlichen Wortmeldung «falsch», und die Kirchen appellierten an die Union, nicht gemeinsam mit der AfD zu stimmen. Ein Holocaustüberlebender gab sein Bundesverdienstkreuz zurück, der jüdische Publizist Michel Friedman nannte die Abstimmung ein «unentschuldbares Machtspiel» und trat nach vierzig Jahren aus der CDU aus. Regierungschefs mehrerer Bundesländer, etwa der Berliner CDU-Bürgermeister Kai Wegner, kündigten an, im Bundesrat nicht für Gesetze zu stimmen, die mithilfe der AfD zustande gekommen sind. Vielerorts gab es laute Proteste vor CDU-Zentralen.

Bei volatilen Mehrheitsverhältnissen, in denen einzelne Abgeordnete einen Unterschied machen, kann das, wie sich am Freitag zeigte, schon reichen. Zeugnis eines Bewusstseinswandels in der Union ist das für Merz verlorene Votum aber nicht – aus der Union kam keine einzige Gegenstimme. Der Intervention der Altkanzlerin zum Trotz ist doch auch deutlich geworden, dass der Merkel-Flügel in der CDU kaum noch über Einfluss verfügt. Ein Dutzend Abgeordnete blieben der Abstimmung zwar fern, viele von ihnen kandidieren aber nicht mehr für den Bundestag. Die meisten früheren Merkel-Getreuen haben sich Friedrich Merz längst unterworfen. Beim Parteitag der CDU am Montag schlossen sich die Reihen denn auch demonstrativ hinter dem Kanzlerkandidaten.

Werden diesem die Manöver der letzten Woche bei der Wahl am 23. Februar schaden? Eine souveräne Figur machte Merz im parlamentarischen Durcheinander am Freitag nicht. Andererseits sprechen sich in Umfragen sechzig bis siebzig Prozent der Deutschen für eine Begrenzung der Einwanderung aus, auch unter Anhänger:innen anderer Parteien. In neusten Wahlumfragen sackte die CDU leicht ab und steht nun nicht mehr bei 30, sondern bei 28 bis 29 Prozent. Diese Zahlen bewegen sich allerdings innerhalb der Fehlertoleranz. Bislang sieht es nicht danach aus, dass die Volte Merz noch die schon sicher geglaubte Kanzlerschaft kostet.

Der sozialdemokratische Nochkanzler Olaf Scholz behauptet nun, wohl aus wahlkampftaktischen Gründen, Merz bereite eine Regierungskoalition mit der AfD vor – und bedient damit eine Sorge, die auch viele Demonstrierende umtreibt. Aber stimmt das? Stand der Kurswechsel der österreichischen ÖVP – Schwesterpartei der Union – Pate beim Merz-Manöver? Will Merz sich nach der Wahl tatsächlich eine Koalition mit den Rechtsextremen offenhalten? Zumindest derzeit kann das als äusserst unwahrscheinlich gelten. Auch wenn die gemeinsame Abstimmung ein Meilenstein in der weiteren Normalisierung der AfD ist: Für eine Koalition auf Bundesebene fehlen die Voraussetzungen. In Österreich sind schwarzblaue Koalitionen seit mehr als zwanzig Jahren eingeübt, in Deutschland gibt es sie noch nicht einmal in den Bundesländern.

Das wiederum ist durch die Ereignisse der vergangenen Woche wahrscheinlicher geworden: In Kommunen und Landkreisen, vor allem in Ostdeutschland, in denen die AfD stabil bei über dreissig Prozent steht, sind gemeinsame Voten von CDU und AfD schon länger an der Tagesordnung. Viele in der Ost-CDU wollen die Zusammenarbeit mit der AfD seit Jahren normalisieren. Hier dürfte Merz’ Tabubruch nachhaltig wirken: Er hat eine Koalition aus CDU und AfD auf Landesebene wahrscheinlicher gemacht – etwa in Sachsen-Anhalt, wo 2026 gewählt wird. Eine solche wiederum könnte dann mittelfristig auch als Türöffner für eine Zusammenarbeit auf Bundesebene wirken.

Kaum inhaltliche Argumente

So weit ist es allerdings noch nicht. Zwar haben sich die Voraussetzungen für Koalitionsverhandlungen mit SPD und Grünen durch Merz’ inszenierte Kompromisslosigkeit etwas verkompliziert. Doch Tabubruch hin oder her: Auch Schwarz-Grün ist nach wie vor möglich, wie das grüne Spitzenpersonal die vergangenen Tage nicht müde wurde zu versichern; eine Grosse Koalition zwischen Union und SPD sowieso.

An der Migrationspolitik wird es jedenfalls kaum scheitern. Gut denkbar, dass einige Inhalte aus dem am Freitag abgelehnten Gesetzesentwurf in wenigen Wochen in einem schwarz-roten oder schwarz-grünen Koalitionsvertrag stehen werden. Dass sie kein Problem mit der Beschneidung des Asylrechts haben, bewiesen SPD wie Grüne in der zurückliegenden Legislatur eindrucksvoll.

Noch während Anfang 2024 gegen die AfD demonstriert wurde, brachte die Ampel eine drastische Ausweitung der Ausschaffungshaft auf den Weg. Im Frühjahr stimmte die Bundesregierung den neuen EU-Regeln zu, die unter anderem Haftlager für Asylsuchende an Europas Aussengrenzen vorsehen. Im Sommer organisierte das SPD-geführte Innenministerium die erste Ausschaffung ins von den Taliban regierte Afghanistan. Im Herbst beschloss die Ampel abermals Leistungskürzungen und Aufenthaltsbeschränkungen für Schutzsuchende. Noch am Tag, als die Ampelkoalition zerbrach, einigte sich das Kabinett darauf, den europäischen Asylrechtseinschränkungen weitere Verschärfungen zur Seite zu stellen.

Folgerichtig haben SPD und Grüne auch kaum inhaltlich gegen die Merz-Vorstösse argumentiert (allein: EU-Recht müsse geachtet werden). Die Brandmauer zu bewahren, heisst für sie schlicht, nichts mit den Stimmen der AfD durchzubringen. Auch die «Brandmauer»-Demos drehen sich hauptsächlich um den Erhalt des Kooperationstabus, sie sind (noch) keine Massenbewegung für den Schutz des Asylrechts. Dass dieses von der Ampelregierung ohne viel Gegenwind weiter verstümmelt wurde – kurz nachdem Ampelpolitiker:innen letztes Jahr auf Massendemos Selfies «gegen Rechts» geknipst hatten –, sollte wachsam machen: Merz’ Tabubruch im Bundestag fand letzte Woche statt; weitere Tabubrüche bei der Beschneidung von Menschenrechten könnten bald folgen. Ganz ohne die AfD, nur mit den Stimmen der «demokratischen Mitte».