Regierungskrise in Deutschland: Schuldenbremse als Totengräberin
Die Ampelregierung ist gescheitert, Deutschland steht vor Neuwahlen. Warum ist die Koalition zerbrochen, und was kommt als Nächstes?
«Das Ende einer Koalition ist nicht das Ende der Welt», sagte der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, als die Entlassung des Finanzministers Christian Lindner (FDP) vergangenen Mittwoch besiegelte, was sich lange angekündigt hatte: das Scheitern des ersten rot-grün-gelben Regierungsbündnisses auf Bundesebene. Der vermeintliche Trost, der in Steinmeiers Worten steckte, wirkte wie ein Echo auf die Stimmung, die sich angesichts des Ampel-Endes vor allem unter Linksliberalen breitgemacht hatte. «Auch das noch!», so oder ähnlich kommentierten viele das Scheitern der 2021 als «Fortschrittskoalition» gestarteten Regierung.
Der Grund für diese Reaktionen ist, dass aus Neuwahlen – die Mitte Februar stattfinden sollen – mit hoher Wahrscheinlichkeit die CDU als stärkste Kraft und deren rechtskonservativer Vorsitzender Friedrich Merz als Bundeskanzler hervorgehen werden. Die extrem rechte AfD sowie das Bündnis Sahra Wagenknecht können auf Zugewinne beziehungsweise auf den erstmaligen Einzug in den Bundestag hoffen, aus dem die Linkspartei wiederum rauszufliegen droht. Da im Herbst 2025 ohnehin Bundestagswahlen angestanden hätten, kommt nichts davon völlig überraschend, aber eben doch früher als erwartet.
Rückgrat- und ambitionslos
So nachvollziehbar die Ängste vor einer Merz-Regierung sind, so ernüchternd ist doch auch, dass Neuwahlen überhaupt nicht mehr mit einer Chance auf eine sozialere oder progressivere Politik in Verbindung gebracht werden – weil die Ampel in der Vorstellungskraft vieler Deutscher derzeit die «linkeste» mögliche Bundesregierung ist und soziale Bewegungen, die egal welche Regierung zu Verbesserungen zwingen könnten, weitgehend am Boden liegen. Ganz anders als 2005, als in Deutschland zuletzt vorgezogene Neuwahlen (ebenfalls unter einem sozialdemokratischen Kanzler) stattfanden und die PDS als Vorgängerpartei der Linken ihr Ergebnis vor dem Hintergrund einer Massenbewegung gegen Sozialkürzungen und Hartz IV verdoppeln konnte, fürchten heute viele einen weiteren Rechtsruck.
Auch wegen dieser Sorge bleibt der schonungslose Blick auf die zurückliegenden drei Jahre unter der Ampel verstellt. Die Regierung unter Kanzler Olaf Scholz hat sozialpolitisch und beim Klimaschutz rückgrat- und ambitionslos gearbeitet und beim Asylrecht die konservativ geführten Vorgängerregierungen unter Angela Merkel längst rechts überholt. Und das liegt nicht allein an der FDP, die der kleinste Partner im Dreierbündnis war. Richtig ist indes: Was immer SPD und Grüne seit 2021 zur gesetzlichen Neuregelung und Finanzierung durch den Ampel-Haushalt vorschlugen, musste durch das Nadelöhr des Koalitionskompromisses – und kam mit deutlich neoliberaler Färbung wieder heraus. Das zeigen etwa der geplante Einstieg in eine Aktienrente, die Beibehaltung von klimaschädlichen Subventionen oder die völlige Verwässerung des Lieferkettengesetzes, das Arbeiter:innenrechte stärken sollte.
Wo die unüberwindbaren ideologischen Gräben in der Ampelkoalition verliefen, wurde nach dem sogenannten Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts im November 2023 sichtbar. Es hatte zu jenem Haushaltsstreit geführt, der als schleichender Totengräber der Koalition gilt. Das Gericht in Karlsruhe erklärte damals die Umwidmung von sechzig Milliarden Euro Coronahilfen in Mittel für den «Klima- und Transformationsfonds» für nicht vereinbar mit der 2009 im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse. Diese begrenzt die zulässige Neuverschuldung Deutschlands und wird von vielen Ökonom:innen inzwischen als ernstes Hindernis für eine aktive Wirtschaftspolitik bewertet.
Ein Nachtragshaushalt für 2023 musste nach dem Urteil her, auch der Haushaltsentwurf für 2024 war in weiten Teilen hinfällig. Der neue Entwurf enthielt dreissig Milliarden an Einsparungen gegenüber 2023 – die die Ampel nicht einhalten konnte. Unter anderem, weil von ihr beschlossene Sanktionen beim Bürgergeld (so heisst Hartz IV heute) nicht zum Rückgang der Zahl von Hilfeempfänger:innen führten. Am Nachtragshaushalt und dem Haushalt 2025 entzündete sich ein monatelanger Streit, den Scholz mit einem Kompromiss lösen wollte, der vorsah, die Ukrainehilfen aus dem Regelhaushalt herauszulösen und sie stattdessen über zusätzliche Kredite zu finanzieren. Daran zerbrach schliesslich das Regierungsbündnis.
Lindners gigantisches Ego
Kern des Konflikts ist die Frage, ob das austeritätspolitische Instrument der Schuldenbremse in der vom Verfassungsgericht bestätigten strengen Auslegung noch zeitgemäss ist. SPD und Grüne sehen das nicht so; sie verweisen auf die schwächelnde Konjunktur, die zunehmende Konkurrenz durch hochsubventionierte Wirtschaften wie China und die USA, die Militärhilfe für die Ukraine und die Kosten eines grünen Umbaus der Industrie. Um einen Ausbau des Sozialstaats ging es allerdings auch SPD und Grünen nie.
Christian Lindner und seine FDP hingegen lehnen staatliche Subventionen als unzulässigen Eingriff in die Wirtschaft gänzlich ab. Lindner fordert stattdessen, den Standort Deutschland durch die vollständige Abschaffung des Bürgergelds, die Schwächung von Arbeitsrechten, ein höheres Renteneintrittsalter, die Abschaffung von Klimaschutzvorgaben und weitere Steuererleichterungen für Unternehmen an deren Bedürfnisse anzupassen. Die Schuldenbremse, die SPD und Grüne zumindest entschärfen wollen, bildet für Lindner das Fundament, auf dem er sein gigantisches Ego als Abgeordneter einer Zwei-bis-drei-Prozent-Partei errichtet und sein ultraneoliberales Sparprogramm gegen den Keynesianismus à la Habeck und Scholz öffentlichkeitswirksam in Stellung bringt.
Ob Friedrich Merz, dessen CDU mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht den Haushaltsstreit 2023 erst ins Rollen gebracht hatte, die Lindner-Linie weiterführt, ist fraglich. Der Transformationsdruck in der Industrie ist ebenso hoch wie der Investitionsbedarf bei der maroden Infrastruktur, etwa beim Schienennetz, bei Strassen oder Brücken. Auch einige CDU-Ministerpräsidenten äusserten deshalb schon deutliche Kritik am FDP-Sparfetisch. Eine Reform der Schuldenbremse mit dem Ziel der Investitionsförderung, wie es SPD und Grüne wollen, könnte also auch in Merz’ Interesse liegen. Im Unterschied zu den Ampel-Koalitionären müssten er und seine CDU sich ideologisch jedoch nicht bis zur Unkenntlichkeit verbiegen, um die Demontage sozialer Sicherungssysteme oder die Abschaffung von Klimazielen weiterzubetreiben.
Schlecht aufgestellt
In eine völlig andere Richtung will die Linkspartei gehen, die allerdings weit unter der Sperrklausel von fünf Prozent dümpelt und mit der FDP um den letzten Platz im Umfragekeller konkurriert. Der Kampf der Linkspartei gegen die Bedeutungslosigkeit und um den Wiedereinzug in den Bundestag wäre auch beim regulären Wahltermin im Herbst 2025 hart geworden. Dass ihr wertvolle Monate verloren gehen, stellt sie vor eine Herkulesaufgabe, da viele geplante Instrumente der Erneuerung – etwa Zehntausende Haustürgespräche im Vorwahlkampf – nun nicht wie geplant zum Tragen kommen dürften. Die frisch gewählte linke Parteiführung um Ines Schwerdtner und Jan van Aken zeigte sich in den Tagen rund um das Regierungsscheitern dennoch betont optimistisch und handlungsfähig. Noch bevor der Neuwahltermin feststand, präsentierten sie bereits ihre Spitzenkandidat:innen und kündigten einen Wahlkampf mit «antifaschistischer Wirtschaftspolitik» an. Damit ist gemeint: Einen weiteren Rechtsruck aufhalten kann man nur mit sozialer Politik.
«Nach der Ampel links» – das gab die Linken-Spitze am Tag nach dem Ampel-Ende als Motto aus. Der Mehrheitsstimmung in Deutschland entspricht ein Abbiegen in diese Richtung derzeit freilich nicht. Ob die Partei es schaffen kann, in der kurzen verbleibenden Zeit noch etwas daran zu drehen, ist fraglich. Das Ende der Welt sind Neuwahlen gewiss nicht. Wie ein Ende mit Schrecken mag sich das Scheitern der Regierung für viele anfühlen. Ob ein Schrecken ohne Ende folgt, darum wird es in den kommenden Wochen gehen, und für diese Auseinandersetzung sind sowohl parlamentarische als auch ausserparlamentarische Linke in Deutschland nicht eben gut aufgestellt.