Geflutete Piazza Grande

In Locarno könne man sich jetzt in zweierlei Hinsicht auf eine Flut freuen – nämlich auf den Eröffnungsfilm «Le déluge» sowie auf eine «wahre Flut von Arthouse-Filmen». Was das Branchenmagazin «The Hollywood Reporter» in einem Artikel zur Festivaleröffnung schreibt, klingt an der Maggia etwas zynisch. Es lässt sich aber wohl mit der mangelnden Vertrautheit des Journalisten mit den jüngsten Wetterereignissen samt leider ganz und gar unmetaphorischen Fluten entschuldigen.

Der Titel des diesjährigen Eröffnungsfilms, «Le déluge», bezieht sich auf die hedonistisch gemeinte, sich als prophetisch herausstellende Aussage des französischen Königs Louis XV. Nach ihm komme bloss noch die Sintflut, hatte dieser gesagt. Der Film selbst handelt dann auch von eben dieser Sintflut – beziehungsweise deren Auswirkungen auf den letzten König Louis XVI (Guillaume Canet) sowie dessen Gattin Marie-Antoinette (Mélanie Laurent). Deren anfängliche naserümpfende Irritation angesichts des skandalösen Treibens der französischen Revolutionäre – die nichts dabei finden, die noble Familie im Tour du Temple in Paris einzusperren und ihr mit einer Ausnahme sämtliche Bedienstete zu entziehen – weicht langsam, aber sicher der Erkenntnis, dass das mit dieser Revolution etwas Ernstes ist, gefolgt von der Angst, dass möglicherweise selbst königliche Köpfe nicht sicher sind vor dem Blutdurst der Guillotine. Dabei war es einst – oh bittere Ironie – Louis selbst gewesen, der Joseph-Ignace Guillotin den entscheidenden Tipp mit der abgeschrägten Klinge gab.

Regisseur Gianluca Jodice, dessen vorheriger Film «Il cattivo poeta» von Gabriele D’Annunzio handelte, hat offenbar ein Herz für grosse Unverstandene. Schliesslich waren auch die königlichen Eheleute Louis XVI und Marie-Antoinette doch ganz normale Menschen mit Gefühlen – daran können weder der Gesetzgebungsausschuss der Revolution noch die «volonté générale» etwas ändern. So übernimmt der Film, von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, ganz die Perspektive des traurigen Louis, der ohnmächtig mitansehen muss, wie ungehobelte, ungebildete und ungewaschene Vertreter der Revolution die guten feudalen Sitten mit Füssen treten. Einer deren intellektuelleren Vertreter darf einmal immerhin knapp auf das Problem hinweisen, dass der König nebst einem leidenden, sterblichen Körper eben auch noch einen symbolisch-politischen hat.

Auf einen Vermerk auf den Hunger der französischen Bevölkerung oder gar auf die Gewalt von Hunderten Jahren Absolutismus wird verzichtet, wie auch auf ein wahrnehmbares Bewusstsein für die Tatsache, dass heutige Palaststürme meist eher antidemokratisch sind. Stattdessen hört man am Mittwochabend auf der Piazza und in den Gassen von Locarnos Altstadt die Schreie von Marie-Antoinette, die dem Verlust ihrer Privilegien nachtrauert.