Literatur: Nicht echt und ganz gut so
Wer auf Fürsorge angewiesen ist, sieht die Welt klarer: Selma Kay Matter findet in «Muskeln aus Plastik» eine beeindruckende Sprache für ein queeres Leben mit Long Covid.

Filme und Berichte über Transidentität laufen oft nach ähnlichem Schema ab: Eine Person leidet am «falschen Körper», trifft auf verständnislose Eltern, Klassenkameradinnen, Psychiater, findet aber auch Verbündete. Dank ihnen erhält sie Zugang zur ersehnten geschlechtsangleichenden Operation und liegt schliesslich groggy, aber glücklich im Spitalbett.
Fast nichts davon trifft auf Kay zu. Kay möchte zwar einen maskulineren Körper und deshalb Testosteron, aber weder Operationen noch ein männliches Pronomen. Kay gehört zur wachsenden Gruppe nonbinärer Menschen, die Veränderungen an ihren Körpern vornehmen, ohne eindeutig werden zu wollen. Kay ist Ich-Erzähler:in in Selma Kay Matters neuem Buch «Muskeln aus Plastik», das eher autobiografischer Essay als Autofiktion ist (das Wort «Roman» taucht nirgends auf). Kay erwartet von der körperlichen Transformation kein Happy End, denn Kay hat Long Covid: «Im September habe ich durchschnittlich 23 Stunden am Tag im Bett verbracht. […] Wenn ich zum Briefkasten ging, konnte ich danach eine Stunde nicht sprechen.» Hat Kay einmal Sex, dann zum Preis tagelanger Erschöpfung.
Stylen unter Schmerzen
Bis vor wenigen Jahren war es unter den meisten Mediziner:innen Konsens, dass nur «echte Transsexuelle» Zugang zu geschlechtsangleichenden Behandlungen erhalten sollten. Es gab Stapel von Fachliteratur, wie diese «Echtheit» zu bestimmen sei. Trans Personen sollten ihre Geschlechtsidentität und ihre Sexualität klar auseinanderhalten können. Fand jemand den eigenen Körper in Kleidern des «Wunschgeschlechts» sexuell aufregend, wurde von Eingriffen abgeraten. Diese Trennung zwischen Identität und Begehren ist wohl sinnvoll, um sich über Bedürfnisse klar zu werden (und Transidentität von unterdrückter Homosexualität zu unterscheiden). Und doch bleibt sie ein Stück weit illusorisch: Wer sich mit einem anderen Körper, anderen Körperteilen als den gegebenen identifiziert, kann grosse Mühe haben, Sexualität befriedigend zu leben. Wundert es da, dass der erhoffte transformierte Körper ein Objekt des Begehrens wird?
Mit Jahrgang 1998 gehört Selma Kay Matter zu einer queeren Generation, für die Eingriffe in Körper ziemlich normal sind. Vielleicht auch, weil «Echtheit» im KI-Zeitalter nochmals fragwürdiger geworden ist. Matter zitiert Autor:innen, die dieses Nicht-auseinanderhalten-Können, den «Wunsch, deinen Bro zu beschützen, zu ficken und seinen Körper zu besitzen», nicht als Problem, sondern als queeren Ausweg sehen.
Das gilt auch für Kay selbst: Die Hoffnung, als begehrenswerter Twink, als jungenhafter Schwuler, wahrgenommen zu werden und Sex zu haben, treibt Kay an, auch in der grössten Erschöpfung das Bett zu verlassen. So stylt sich Kay unter Schmerzen als Twink, sucht via «Grindr»-App einen Sexpartner – und seziert nebenbei die gnadenlosen Schönheitsideale der Schwulenszene.
«Muskeln aus Plastik» ist ein Buch über Begehren und Schmerzen – oder beides auf einmal: Weil Sex zu anstrengend ist, lässt sich Kay von Lover Aron lieber ohrfeigen. «Ich will einen leuchtenden Handabdruck auf meiner Wange. Kratzer auf meinem Rücken.» Long Covid zwingt zu einem extrem kontrollierten Tagesablauf. Das erinnert Kay an die frühere Magersucht, diese «ausser Kontrolle geratene Form der Kontrolliertheit».
Fragile Solidarität
Matter findet für diese Erfahrungen eine trockene, beeindruckend präzise Sprache. Etwa in den Rückblenden: Das Kind Selma hat Neurodermitis, Albträume vom Ertrinken und eine seltene Krankheit, die zu Überbeweglichkeit führt. Es lernt früh, dass sein Körper Grenzen hat. Und dass es diese dehnen kann – mit Extremsport oder der Weigerung, zu essen. Lakonischer Humor macht das Buch unerwartet lustig, etwa wenn es heisst, chronische Krankheiten hätten im Gegensatz zu Unfällen ein «dramaturgisches Problem»: «Care und Empathie halten maximal so lange wie ein Gips, und man weiss doch genau, wie das ist, wenn der Gips irgendwann gräulich und muffig wird und alle schon unterschrieben haben.» Mit anderen kranken oder magersüchtigen Kids solidarisch zu sein, scheint kaum möglich – Konkurrenz dominiert: Wer kann mehr hungern, wer hat das Leben mehr im Griff, und ist die überhaupt krank, oder tut sie nur so?
Wohl auch vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen versucht Kay später, Solidarität mit anderen queeren chronisch Kranken zu leben. Auch hier romantisiert Matter nichts, sondern beschreibt bis ins Detail, wie brutal und schmerzhaft es sein kann, auf die Fürsorge anderer angewiesen zu sein. Kays nonbinäre:r Freund:in Ilay lässt sich «Brüste machen», Kay und Aron begleiten Ilay in die Klinik und helfen danach bei der Pflege. Und gerade weil Matter so genau erzählt, wie sich die drei missverstehen, neidisch aufeinander oder erschöpft sind, macht der Text Solidarität vorstellbar. Eine Solidarität, die selten harmonisch und nie reibungslos ist. Aber wenn Menschen lernen, in dieser Spannung zu leben, wird viel möglich. Sogar ein kleines, fragiles Happy End.

Selma Kay Matter liest in: Zürich, Kaufleuten, Mo, 13. Januar 2025, 20 Uhr. www.kaufleuten.ch