«Ich rettete meine Seele, indem ich diesen Roman schrieb» In «Nacht in Damaskus» zeichnet Shukri Al Rayyan ein Porträt der syrischen Gesellschaft während des Arabischen Frühlings 2011. Ein Gespräch über Diktatur, Widerstand und Hoffnung.

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Portraitfoto von Shukri Al Rayyan
«Das Schreiben war auch ein Heilungsprozess»: Shukri Al Rayyan in Burgdorf.

WOZ: Shukri Al Rayyan, «Nacht in Damaskus» beginnt mit einer folgenschweren Entscheidung: Als Ihr Protagonist Dschawwad im Büro auf seinen toten Chef und eine Tasche mit vierzehn Millionen syrischen Pfund stösst, traut er sich nicht, die Polizei zu rufen – aus Angst, gefoltert zu werden. Was sagt das über die Gesellschaft aus, die Sie beschreiben?

Shukri Al Rayyan: Shukri Al Rayyan: Mit der Machtergreifung Hafis al-Assads im Jahr 1970 wurde Syrien zu einem Polizeistaat. Jede und jeder von uns Syrer:innen hätte sich in Dschawwads Situation dieselben Gedanken gemacht: Wir alle lebten am Abgrund einer Hölle, in die man jederzeit abrutschen konnte. 41 Jahre verbrachten wir unter ständiger Erniedrigung – dann kam der Arabische Frühling.

WOZ: An diesem Punkt, im Jahr 2011, setzt Ihr Roman ein. War die Revolution absehbar?

Shukri Al Rayyan: Ja. Aber es waren nicht nur die fehlenden politischen oder individuellen Freiheiten, die uns auf die Strasse trieben. Vor allem die ökonomische Lage war unerträglich geworden. Oft hatten wir Mühe, genug Essen auf den Tisch zu bringen. Wer das nicht selbst erlebt hat, kann es sich nicht vorstellen – aber wir warteten damals darauf, dass das ganze System zusammenbrechen würde.

WOZ: Auch Dschawwad hat nichts zu verlieren. Er nimmt die Tasche mit – und gerät sofort ins Visier der Polizei und der Geheimdienste. Es ist ein sehr komplexes Netz der Macht, das Sie beschreiben. Woher hatten Sie dieses Wissen?

Shukri Al Rayyan: Meine deutsche Übersetzerin hat mir dieselbe Frage gestellt, obwohl sie schon lange in der Region lebt und Syrien gut kennt. Unter Baschar al-Assad bewegten wir Syrer:innen uns in zwei Realitäten: eine, in der wir versuchten, einen möglichst normalen Alltag zu leben. Und eine andere, in der wir Gefangene eines tyrannischen Regimes waren. Diese zweite Ebene blieb Fremden stets verborgen. Wir Syrer:innen aber wussten alle sehr genau, wie die Geheimdienste operierten, weil sie jeden Aspekt unseres Lebens kontrollierten.

WOZ: Besonders erschütternd ist diese allgegenwärtige Angst, die Sie beschreiben.

Shukri Al Rayyan: Angst ist der einfachste Weg, eine Herde zu lenken.

WOZ: Dschawwad beschreibt sich selbst als «mit einem Zaumzeug um den Hals angebunden». Es scheint ihm aber gar nicht so sehr um politische, sondern eher um individuelle Freiheit zu gehen: Er will einfach leben.

Shukri Al Rayyan: Genau. Die Politik ist ihm egal, wie mindestens neunzig Prozent der jungen Männer in seinem Alter. Und wieso sollte es anders sein? Unter Assad gab es ja gar keine öffentliche Sphäre, an der man hätte teilhaben können. Man konnte nur essen, wenn man etwas zu essen fand, dann schlafen, um frühmorgens wieder aufzuwachen und zur Arbeit zu gehen, wie Dschawwad es jeden Tag tut. Unter diesen Umständen glücklich zu sein, ist unmöglich. Aber dann verliebt sich Dschawwad in Lamis …

WOZ: Diese Liebesgeschichte ist der Kern des Romans. Unter anderen Umständen wären Dschawwad und Lamis ein gewöhnliches Paar. Aber in der Situation, in der sie sich befinden, ist ihre Beziehung praktisch unmöglich.

Shukri Al Rayyan: Ihre Beziehung ist nur schon aus ökonomischen Gründen zum Scheitern verurteilt. Obwohl Dschawwad Ingenieur ist, kann er sich kaum über Wasser halten. Lamis ist Übersetzerin, eine kluge und fähige Frau, aber ihr Lohn reicht gerade knapp für das Nötigste. Auch meine Frau Joumana und ich mussten viereinhalb Jahre warten, ehe wir heiraten konnten – das ging erst, als wir ein Zimmer fanden, in dem wir leben und eine Familie gründen konnten. Keine Wohnung, sondern ein kleines Zimmer. Das war unser Ausgangspunkt für ein sehr, sehr hartes Leben.

WOZ: Bei Dschawwad und Lamis kommt verkomplizierend dazu, dass sie Alawitin ist wie Baschar al-Assad – also zur religiösen Minderheit gehört, die das Land beherrschte – und er Sunnit.

Shukri Al Rayyan: Nicht nur das: Lamis gehört auch einer mächtigen Familie an, die mit dem Assad-Clan eng verbunden ist, sie hat Verwandte im Geheimdienst. Dieser Aspekt ist wichtig, um die Komplexität der Beziehung zwischen den beiden zu verstehen. Aber letztendlich siegt trotz aller Widrigkeiten ihre Liebe. Das ist die Botschaft meines Romans: Die Liebe muss siegen, denn sie ist unsere einzige Hoffnung. Ursprünglich hatte ich den Roman als blosse Liebesgeschichte angelegt – aber dann kam die Revolution, stellte alles auf den Kopf und ordnete es so, wie es sein sollte.

WOZ: Wie es sein sollte?

Shukri Al Rayyan: Die ersten Sätze dieses Romans schrieb ich 2004. Damals wagte ich nicht, auch nur an die politischen Hintergründe zu denken, die heute Teil des Buchs sind – geschweige denn, sie aufzuschreiben. Das wäre zu gefährlich gewesen. Weil ich nicht schreiben konnte, was ich fühlte, liess ich den Entwurf sieben Jahre liegen. Erst als sich die Menschen gegen Assad erhoben, fand ich auch als Schriftsteller meine Stimme. Es war wie eine Offenbarung für mich.

WOZ: Das war im Frühling 2011. Die erste Fassung des Buchs schrieben Sie damals in nur acht Monaten. War das Schreiben für Sie kathartisch?

Shukri Al Rayyan: Für mich war es so notwendig wie Atmen, ich setzte nicht einen Tag aus. Es ging mir aber nicht nur darum zu erzählen, was da gerade mit Syrien geschah – das Schreiben war auch ein Heilungsprozess.

WOZ: Inwiefern?

Shukri Al Rayyan: Die Revolution hatte mit friedlichen Demonstrationen begonnen. Ich ging damals in Damaskus auf die Strasse, sammelte Geld, Essen und Medikamente für jene, die vor dem Regime fliehen mussten, half, Menschen zu verstecken. Auch meine Frau und meine Freund:innen waren Teil des Widerstands. Aber das Regime zerschlug die Proteste, riegelte die Stadtviertel ab, sodass wir uns nicht mehr frei bewegen konnten. Also rettete ich meine Seele, indem ich diesen Roman schrieb.

WOZ: Während Sie den Roman schrieben, war also bereits klar, dass die Revolution keinen Erfolg haben würde?

Shukri Al Rayyan: Ja, und das war ein sehr schmerzhaftes Gefühl. Aber das Schreiben ist mein Mittel, Widerstand zu leisten. Auch heute noch. Und spätestens heute, nach dem Massaker in der alawitischen Region im Nordwesten des Landes, bei dem im März Hunderte Zivilist:innen ermordet wurden, ist klar: Die Revolution wurde besiegt. Vollständig.

WOZ: Trotzdem hat das Buch etwas Hoffnungsvolles. Etwas scheint aufzubrechen, Alawit:innen und Sunnit:innen gehen gemeinsam gegen das damalige Regime auf die Strasse.

Shukri Al Rayyan: 2011 taten sich viele Sunnit:innen und Alawit:innen solidarisch zusammen. Gleichzeitig haben sowohl Sunnit:innen als auch Alawit:innen das tyrannische Regime von Baschar al-Assad unterstützt. Im heutigen Syrien sind die Alawit:innen das Feindbild, dabei beteiligten sich auch viele weitere Syrer:innen an Assads Verbrechen.

WOZ: Die Revolution von 2011 wurde von Sunnit:innen angeführt. Viele Alawit:innen, schreiben Sie, wurden damals von einer Angst vor Menschen ausserhalb ihrer Religionsgemeinschaft ergriffen. Auch Lamis ist zwiegespalten. Ist sie in dieser Hinsicht eine exemplarische Figur?

Shukri Al Rayyan: Lamis ist zwischen zwei Dingen hin- und hergerissen: ihrer Liebe zu Dschawwad und ihrem Alltag, in dem sie aufgrund ihrer Religions- und Familienzugehörigkeit gewisse Privilegien geniesst. Aber diese Angst und die Vorurteile mancher Alawit:innen teilt sie nicht. Sonst hätte sie sich nicht in Dschawwad verliebt. Ihr Hauptkonflikt ist das Vertrauen: Als sie erfährt, dass Dschawwad die Tasche gestohlen hat, ist das für sie ein Schock – nie im Leben hätte sie ihn für einen Dieb gehalten. Sie kann diesen Schock erst überwinden, als sie Dschawwad im Spital besucht, nachdem er von den Sicherheitskräften übel zugerichtet worden ist. Es ist also wichtig, Lamis nicht nur als Alawitin zu lesen. In erster Linie ist sie eine verliebte Frau.

WOZ: Als Lamis Dschawwads zerschlagenes Gesicht sieht, wird ihr klar, dass die beiden in Syrien keine Zukunft haben. Heimlich organisiert sie ihre Flucht. Auch Sie gingen ins Exil: 2014 kamen Sie in die Schweiz.

Shukri Al Rayyan: Wir hatten keine andere Wahl. Mein älterer Sohn, der damals 22 war, sollte zur Armee eingezogen werden, was seinen sicheren Tod bedeutet hätte. Der zweite wäre ihm ein paar Jahre später gefolgt. Ich wiederum war in Gefahr, weil ich auf Facebook Beiträge verfasst hatte, in denen ich die Situation und damit indirekt das Regime kritisierte. Aber es war nicht ich, der diese Entscheidung traf, sondern meine Frau Joumana. Sie erfasste den Ernst der Situation und rettete so mein Leben und das meiner Söhne. Gemeinsam mit meiner Schwester, die seit sechzehn Jahren in der Schweiz lebt, organisierte sie unsere Flucht.

WOZ: Genau wie Lamis.

Shukri Al Rayyan: Ja. Ich habe das so geschrieben, bevor Joumana entschied, dass wir fliehen würden; aber es scheint, als hätten die beiden dieselbe Mentalität. Als Schriftsteller beobachte ich die Menschen um mich herum und setze sie dann aufs Papier. Und viel von Lamis’ Persönlichkeit kommt von Joumana. Auch ihr Humor übrigens – ich selbst bin nämlich ausgesprochen humorlos.

WOZ: Wirklich? Sie schreiben mit feinem Humor.

(Lacht.) Meine Frau und meine Söhne haben sich sehr gewundert, wie ich das geschafft habe. Aber es kommt alles von meinen Figuren.

WOZ: Im Dezember 2024 wurde – nach 54 Jahren an der Macht – das Assad-Regime gestürzt. Sie haben dieses historische Ereignis aus der Diaspora mitverfolgt. Wie war das für Sie?

Shukri Al Rayyan: Erst konnte ich es nicht glauben. Mindestens drei Tage lang schlief ich nicht, war ständig mit Freund:innen und Verwandten in Syrien in Kontakt. Es war schmerzhaft für mich, diesen besonderen Moment nicht gemeinsam mit ihnen in Damaskus zu erleben. Inzwischen muss ich aber sagen, dass ich Glück habe, nicht in Syrien zu sein. Denn Ahmed al-Scharaa ist Baschar al-Assad – nur mit Bart.

WOZ: Wir führen dieses Gespräch Anfang März, just nach dem Massaker an den Alawit:innen. Angesichts dieser grauenhaften, verzweifelten Situation ist das eine grosse Frage – aber was wünschen Sie sich für Syrien?

Shukri Al Rayyan: Darüber habe ich auf dem Weg hierher nachgedacht. Ich hoffe, dass die Syrer:innen irgendwann in Frieden leben können, auch wenn es bedeutet, dass das Land geteilt werden muss. Das ist mein einziger Wunsch für Syrien: weniger Blut.

In den Fängen des syrischen Geheimdiensts

Politthriller, Liebesgeschichte und Gesellschaftsanalyse in einem: «Nacht in Damaskus» zeichnet ein umfassendes Bild der syrischen Gesellschaft unmittelbar vor und während des Arabischen Frühlings. Mit feinem Humor erzählt Shukri Al Rayyan die Geschichte von Dschawwad und Lamis, die in die Fänge der syrischen Geheimdienste geraten und schliesslich fliehen müssen. Ein eindringliches Porträt eines diktatorisch regierten Landes, in dem Misstrauen und Korruption grassieren – und in dem die Menschen trotz allem nach etwas Glück suchen.

Shukri Al Rayyan, geboren 1962 in Damaskus, verbrachte den grössten Teil seines Lebens unter der Assad-Diktatur. Er arbeitete für verschiedene Verlage, als Schriftsteller, Drehbuchautor und Fernsehproduzent. 2014 floh er mit seiner Familie in die Schweiz, heute lebt er in Burgdorf. Er schreibt Politikanalysen für verschiedene deutsch- und arabischsprachige Publikationen und veröffentlicht in Zusammenarbeit mit «Weiter Schreiben Schweiz» literarische Kurztexte. «Nacht in Damaskus» ist 2024 im Verlag Edition Bücherlese erschienen und Al Rayyans erster Roman.

An der Vernissage zu diesem «wobei» moderiert WOZ-Literaturredaktorin Silvia Süess ein Gespräch mit Al Rayyan und Ana Sobral, der künstlerischen Leiterin von «Weiter Schreiben Schweiz», am Freitag, 30. Mai 2025, 17.30 Uhr im Wengisaal, Solothurn. Der Autor liest zudem am So, 1. Juni 2025, 11.30 Uhr im Kino Palace, Solothurn.

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