«Europapreis für politische Kultur»: Aber welche denn eigentlich?
Auch dieses Jahr vergab die Hans-Ringier-Stiftung ihren «Europapreis für politische Kultur»: Preisträger 2023 ist Alexei Nawalny, prominentester politischer Gefangener Russlands. Da dieser die Auszeichnung nicht selbst entgegennehmen konnte, taten dies seine Ehefrau und sein Sohn «im Rahmen des traditionellen ‹Dîner républicain› (…), das alljährlich auf Einladung von Frank A. Meyer im Hotel Castello del Sole in Ascona stattfindet», wie der Verlag mitteilt. So oder ähnlich fanden auch die vergangenen Preisverleihungen statt: immer unter Aufsicht des stolz strahlenden Gastgebers, der zudem als Stiftungspräsident waltet.
Das Ambiente ist bezaubernd. Davon zeugen auch die zahlreichen Gruppenbilder, die Jahr für Jahr den illustren Kreis der Geladenen zeigen. Und doch gibt es feine Unterschiede zu entdecken: Bis 2019 fehlten Gerhard Schröder und Gattin So-Yeon Schröder-Kim bei keiner Feier. Hin und wieder überreichte der deutsche Exkanzler auch die Ehrung, die traditionell jeweils 50’000 Euro und ein Porträtgemälde umfasst, über dessen Qualität sich diskutieren lässt.
2020 fiel das Fest – möglicherweise pandemiebedingt – aus, 2021 gab es kein Gruppenfoto, und nach dem Überfall des «kriminellen Kriegsherrn im Kreml» (Frank A. Meyer im «SonntagsBlick», 6.8.2023) im Februar 2022 kündigte Ringier die Beratertätigkeit von dessen Intimfreund Gerhard Schröder jäh auf.
Nun hätte eine Anwesenheit bei der Ehrung von Nawalny, dem grössten Stachel im Fleisch Putins, Gerhard Schröder, den besten Freund des Autokraten, ja wirklich vor tiefste innere Dilemmata gestellt. Frank A. Meyer hingegen scheinen derlei Zwiespälte nicht zu plagen. Der entwarf in seiner oben genannten Kolumne in grossem Bogen die These, dass Bürgerlichkeit der wahre Anarchismus sei, und hielt fest: «Bürgerlichkeit bedeutet, jede Erkenntnis argumentativ und autoritätsfrei infrage zu stellen. Denn was heute wahr ist, kann morgen als falsch erkannt werden.»
Welche «politische Kultur» genau gemeint ist, die mit diesem Preis ausgezeichnet wird, ist übrigens nirgends zu finden. Aber wie auch immer: Die 50’000 Euro sind Alexei Nawalny, seiner Familie und seinem Freiheitskampf von Herzen zu gönnen. Und möge es nicht die ganzen neunzehn Jahre, zu denen der Mann letzten Freitag verurteilt wurde, dauern, bis er zu Hause unter seinem Ölporträt sitzen kann.