Ein Traum der Welt: Städtische Melancholie

Nr. 20 –

Annette Hug folgt chinesischen Schatten

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War das beleidigend gemeint? Kann das Wort «Bauer» im Mund von J. D. Vance ein Schimpfwort sein? Ist der nicht als Sprachrohr der US-amerikanischen Landbevölkerung angetreten? Solche Fragen kursieren auf der chinesischen Plattform Rednote. Hier treffen sich seit der Massenflucht von Tiktok-Nutzer:innen Leute aus West und Ost. So erklärt ein weisser Amerikaner mit dem Bart eines Gründervaters in fliessendem Mandarin den Unterschied zwischen den Wörtern «farmer» und «peasant».

Es geht darum, dass US-Vizepräsident ­Vance Anfang April Donald Trumps Zollpolitik mit dem Satz verteidigt hat, die USA liehen «Geld von chinesischen Bauern, um dann Produkte zu kaufen, die chinesische Bauern produzieren». Dabei sprach er von «peasants» und meinte etwas zwischen Hinterwäldler und Landarbeiter. Natürlich gab es darauf geharnischte und empörte Posts chinesischer Patriot:innen. Interessant sind aber persönliche Videos im Andenken an Eltern und Grosseltern: Natürlich sind wir Bäuer:innen, scheinen sie zu sagen, und können es nicht fassen, dass innert weniger als zwei Generationen alle Felder in der Umgebung der Millionenstädte verschwunden sind, dass man stundenlang im Hochgeschwindigkeitszug fahren muss, um etwas von den Gerüchen der Kindheit wiederzufinden.

J. D. Vance demonstriert, dass Vorurteile eine Form von Dummheit sind. Man schadet sich damit selbst. Dass er und sein Chef auch die Macht haben, Millionen von Existenzen zu vernichten, sei für einmal ausgeklammert. Berührend an besagten Videos ist ihr Ton, zum Beispiel im Beitrag der Nutzerin «momo Chris». Sie steigt nicht auf Vance’ Aggression ein und weist den Gegensatz von bäurisch versus modern zurück. Ähnlich nachdenklich sprach der chinesische Künstler An Zewen, als er im Dezember 2024 an der Cité internationale des arts in Paris seine Fotografien kommentierte. Da waren zerfallende, leer stehende Fabriken zu sehen. Denn auch die ersten Schübe der Industrialisierung sind Geschichte. Und man denke nicht mehr daran, sagte An. Das verschwinde alles aus den dominanten Bildern: die verstaubten Maschinen, die doch einst für den absoluten Fortschritt gestanden hätten, aber auch die Arbeit, die Hoffnungen, die Nöte. Wo gehe das hin?

Beim Zappen durch Videos auf Rednote kann ich nicht davon abstrahieren, dass das Wort für «Film» auf Chinesisch «elektrische Schatten» heisst: dianying beziehungsweise 电影. Lange dachte ich, diese Wortschöpfung sei eine rein assoziative Verbindung – ein erster Eindruck, den irgendwer in einem Kinosaal hatte, als er oder sie zum ersten Mal bewegte Bilder sah. Erst kürzlich, als ich das Zeichen wieder einmal nachschlagen musste, wurde mir eine ältere Bedeutung bewusst: 影 heisst auch Schattentheater. Womit die Leinwand zum Tuch wird, das irgendwo auf dem Land, in alter Zeit, aufgespannt wurde. Feuer brannten, und Spieler:innen liessen Figuren zwischen der Lichtquelle und der Leinwand zappeln, tanzen, morden und lieben.

Dass «écran» auf Französisch nicht nur Leinwand, sondern auch Bildschirm heisst – wie das englische «screen» –, verbindet das Schattentheater mit dem Laptop, auf dem ich gerade diese Kolumne schreibe und zum Schluss noch der Rednote-Nutzerin «momo Chris» danken möchte, dass sie mich vom amerikanischen Vizepräsidenten abgelenkt hat.

Annette Hug ist Autorin und Übersetzerin in Zürich. Sie hört im Hintergrund Marianne Faithfulls «Working Class Hero» mit der markanten Strophe «You’re still fucking peasants as far as I can see / A working class hero is something to be».