Letzte Generation: Verdächtig friedlich

Nr. 22 –

Die Klimaaktivist:innen von der Letzten Generation sollen eine kriminelle Vereinigung gebildet haben – das behauptet die Staatsanwaltschaft München. Der Schuss könnte nach hinten losgehen.

Am Morgen des 24.  Mai wurde Carla Hinrichs unsanft aus dem Schlaf gerissen. «Man wacht auf, weil ‹Polizei› geschrien wird, und plötzlich steht ein Polizist mit schusssicherer Weste vor deinem Bett und richtet eine Waffe auf dich», schildert die 26-Jährige, eine der Sprecher:innen und bekannten Gesichter der Klimaschutzinitiative Letzte Generation, die Razzia in einem in den sozialen Medien veröffentlichten Video. Im Auftrag der Bayerischen Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus der Generalstaatsanwaltschaft München durchsuchte die Polizei an diesem Morgen insgesamt fünfzehn «Objekte» in mehreren deutschen Bundesländern, darunter Hinrichs’ Berliner Wohnung. Die Razzia richtete sich gegen sieben Mitglieder der Letzten Generation im Alter von 22 bis 38 Jahren. Der Vorwurf: Sie sollen eine kriminelle Vereinigung gebildet beziehungsweise unterstützt haben.

Die Polizei beschlagnahmte auch das Geld der Gruppe – und die Website. Wer am Vormittag des 24.  Mai die Seite letztegeneration.de aufrief, wurde auf eine Domain der Polizei Bayern umgeleitet. Dort war zu lesen: «Die Letzte Generation stellt eine kriminelle Vereinigung gemäss § 129 StGB dar! (Achtung: Spenden an die Letzte Generation stellen mithin ein strafbares Unterstützen der kriminellen Vereinigung dar!)» Schon am Nachmittag musste die Generalstaatsanwaltschaft München allerdings zurückrudern. Denn bisher hat noch kein Gericht die Gruppe als kriminelle Vereinigung verurteilt. Die Aussage sei daher, so erklärte etwa der Strafrechtler Mark Zöller von der Universität München gegenüber der ARD-«Tagesschau», eine Vorverurteilung und «absolut unzulässig».

Im Lauf der folgenden 24 Stunden korrigierte sich die Pressestelle der Münchener Generalstaatsanwaltschaft mehrfach und erklärte schliesslich, dass der Anfangsverdacht bestehe, dass die Letzte Generation eine kriminelle Vereinigung gebildet haben «könnte». Den zitierten Hinweis löschte sie. Mittlerweile führt der Link auf eine Ersatzseite der Letzten Generation.

Blockaden als Markenzeichen

Die Klimagruppe und ihre Protestaktionen waren in den vergangenen Monaten eines der grossen Aufregerthemen in Deutschland. Seit eineinhalb Jahren kleben sich ihre Mitglieder immer wieder an Strassen in Grossstädten fest und blockieren den Verkehr. Aktivist:innen haben auch Bilder in Museen mit Suppe beworfen, Luxusboutiquen, Parteizentralen und Privatjets mit Farbe besprüht, doch die Strassenblockaden sind ihr Markenzeichen. Anfang April kündigte die Initiative an, Berlin auf unbestimmte Zeit «lahmzulegen». Bis zu 1400 Aktivist:innen versammelte sie dafür nach eigenen Angaben in der deutschen Hauptstadt. Es folgten erneut zahlreiche Klebeblockaden, anfangs täglich, zuletzt nahm die Frequenz etwas ab.

Bei ihren Aktionen agiert die Gruppe betont friedfertig, sie tritt offen und transparent auf – auf der nun abgeschalteten Website hatte sie auch ihre Finanzen in einem Transparenzbericht detailliert aufgeschlüsselt –, und sie ruft alle Bürger:innen dazu auf, beim friedlichen Protest mitzumachen. Weil die Regierung die Verfassung nicht achte, indem sie nicht genug für den Klimaschutz tue, sei die «letzte Generation vor den Kipppunkten» zum Handeln gezwungen: um in dem kleinen Zeitfenster bis zum Erreichen einer unkontrollierbaren Erderhitzung noch einen Politikwandel anzustossen. Die Lage ist ernst, und entsprechend ernst schauen die Aktiven bei allen öffentlichen Auftritten drein. «Wir machen das nicht gern, sondern weil wir keine Wahl haben», lautet ihre Botschaft.

Trotz oder vielleicht gerade wegen der demonstrativen Friedfertigkeit fallen die Reaktionen drastisch aus. Oft zerren wütende Autofahrer Blockierende grob vom Asphalt, auch die Polizei ist nicht immer zimperlich im Umgang mit den Kleber:innen. Die wiederum leisten nur passiven Widerstand, aber sie kommen immer wieder und betonen, sich weder von gewalttätigen Reaktionen noch von Strafen abschrecken zu lassen.

Genau das bringt viele zur Weissglut. Für Medien aus dem Hause Springer ist die Letzte Generation zum Lieblingsfeindbild aufgestiegen. Schon vor Monaten veröffentlichte die «Bild»-Zeitung unter dem Titel «Darf ich Klima-Klebern eine kleben?» eine Empfehlung, welche Reaktionen strafbar sein könnten (Ohrfeige) und welche eventuell nicht («von der Strasse rupfen, auch wenn dabei Haut kleben bleibt»). Politiker:innen wie der CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt warnen im Zusammenhang mit der Letzten Generation vor einer «Klima-RAF», Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) bezeichnet die friedlichen Blockaden als «physische Gewalt».

Die Letzte Generation versteht ihre Aktionen als «zivilen Ungehorsam», doch teilweise sind sie strafbar. Gegen viele Teilnehmer:innen der Strassenblockaden wird inzwischen ermittelt, einige wurden bereits zu Geldstrafen verurteilt, manchen droht wegen wiederholter Teilnahme sogar Haft. Doch ob die Letzte Generation insgesamt als kriminelle Vereinigung gelten kann, ist höchst umstritten. In den Bundesländern Berlin und Brandenburg laufen entsprechende Prüfverfahren. Der Vorwurf ist keine Lappalie, die Bildung einer kriminellen Vereinigung kann mit bis zu fünf Jahren Haft geahndet werden.

Kritik von Anwält:innen und Uno

Die Münchner Staatsanwaltschaft hofft nun, mit Massnahmen gegen die Finanzierung der Aktionen einen Hebel gefunden zu haben. Den Beschuldigten wirft sie vor, über die Website Spenden gesammelt zu haben, insgesamt 1,4 Millionen Euro, das Geld sei überwiegend für die Begehung von Straftaten eingesetzt worden. Zudem sollen zwei Beschuldigte im April 2022 – erfolglos – versucht haben, die Ölpipeline Triest–Ingolstadt zu sabotieren. Mit den Hausdurchsuchungen habe man weitere Beweismittel zur Mitgliederstruktur und Finanzierung der Gruppe sicherstellen wollen.

Das Verfahren, so erklärte die Staatsanwaltschaft noch, sei aufgrund zahlreicher Strafanzeigen aus der Bevölkerung eingeleitet worden. Doch dass es bei der Stelle für die Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus angesiedelt ist, lässt mehr als nur juristische Pflichterfüllung vermuten. Der Rechtswissenschaftler Tobias Singelnstein von der Goethe-Universität Frankfurt am Main spricht gegenüber Medien mit Blick auf die Ermittlungen von einem politisch motivierten Einsatz des Strafrechts.

Die Aktivist:innen der Letzten Generation sehen das ähnlich. Bei einer Pressekonferenz kurz nach der Razzia wandte sich Sprecherin Aimée van Baalen gegen den Versuch, den Paragrafen 129 gegen Menschen in Anschlag zu bringen, «die dafür protestieren, dass die Regierung sich an ihre eigene Verfassung hält». Im Anschluss an die Durchsuchungen demonstrierten in Berlin, Leipzig, Dresden und anderen Städten Hunderte gegen die Kriminalisierung der Gruppe. Der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) kritisierte die Durchsuchungen scharf, Amnesty International schaltete sich ein und nannte die Ermittlungen einen «schweren Eingriff in die Grundrechte». Selbst Stéphane Dujarric, Sprecher von Uno-Generalsekretär António Guterres, äusserte sich zu den Ereignissen: «Klimaaktivisten – angeführt von der moralischen Stimme junger Menschen – haben ihre Ziele auch in den dunkelsten Tagen weiter verfolgt. Sie müssen geschützt werden, und wir brauchen sie jetzt mehr denn je.» Einige Tage vor der Razzia hatte bereits Arnold Schwarzenegger Sympathien für radikalere Klimaaktionen geäussert: «Das sind Leute, die es gut meinen.»

Es regnet Spenden

Nicht nur wegen der Welle der Solidarisierungen könnte der Kriminalisierungsversuch – jedenfalls vorerst – nach hinten losgehen: Eigentlich, so der Plan vor den Hausdurchsuchungen, wollte die Letzte Generation die Blockaden in Berlin erst einmal aussetzen und eine Sommerpause einlegen. Nun haben die Aktivist:innen angekündigt, stattdessen das «Momentum nutzen» zu wollen. Als Reaktion auf die Verfolgung hätten sich «unzählige» neue Unterstützer:innen gemeldet, die in den kommenden Tagen durch Aktionstrainings für den Klebeeinsatz auf der Strasse fit gemacht werden sollen. Auch die Protestdemos sollen weitergehen. Auf dem Ersatzkonto, auf dem man zwar nicht direkt für die Letzte Generation, aber für die Initiative «Gesellschaftsrat Jetzt» spenden kann, die die Anliegen der Letzten Generation unterstützt, sind seit dem 24. Mai durch Spenden von knapp 9000 Menschen fast 500 000 Euro eingegangen.