Letzte Generation: Sitzen, kleben, schleichen

Nr. 17 –

Die Letzte Generation will Berlin durch zivilen Ungehorsam lahmlegen. Sie polarisiert wie keine andere Gruppe der Klimabewegung. Dabei sind ihre Forderungen geradezu brav.

«Ihr könnt euch verteilen, die gaaaanze Strasse wurde für uns gesperrt», ruft die junge Frau im Ringelshirt ins Mikrofon und beschreibt dabei mit dem Arm eine Art Halbkreis. Sie steht auf einer kleinen Bühne vor dem grossen Brandenburger Tor in Berlin. Es ist Sonntagnachmittag, einer der ersten wirklich warmen Tage dieses Frühjahrs. Die gaaaanze Strasse – damit ist die Strasse des 17. Juni gemeint, die bis zur Siegessäule führt. Um sie vom Brandenburger Tor bis dorthin zu füllen, braucht es Zehntausende. Hier aber stehen nur ein paar Hundert Menschen. Einige haben orange Westen übergezogen, auf die ein schwarzes Herz in einem roten Kreis aufgedruckt ist: das Logo der Letzten Generation, jener Klimagruppe, die wie keine andere derzeit die Gemüter in Deutschland erregt.

Auch wenn die Inhalte der Reden und die Botschaften auf den Plakaten alarmierend klingen, liegt eine frohe, man könnte sagen: erwartungsfrohe Stimmung in der Luft. Die Gruppe hat angekündigt, in den kommenden Wochen die Hauptstadt «lahmzulegen», dafür hat sie Aktivist:innen aus allen Teilen des Landes nach Berlin gerufen. Sie hoffe auf breite Berichterstattung in den kommenden Tagen, aber auf eine, «die sich nicht auf genervte Autofahrer fokussiert, sondern die Politiker konsequent mit wissenschaftlichen Fakten konfrontiert», sagt Susanne Koch auf der Kundgebung.

Koch ist Ärztin an der Berliner Charité und Mitglied der Berliner Klimaliste, die zu Wahlen antritt. Sie zählt auf: Laut dem Weltklimarat-Bericht werden die 1,5 Grad bis 2030 überschritten sein, sie spricht von irreversiblen Kipppunkten und prophezeit die «grösste je dagewesene menschliche Katastrophe», die das «Grauen des Ukrainekriegs, jedes Weltkriegs und jeder Katastrophe, die wir je erlebt haben», übersteige. Wegen dieser Weltuntergangsdramatik wird die Letzte Generation immer wieder kritisiert – worauf ihre Mitglieder stoisch mit dem Verweis auf etliche Studien antworten, die in der Tat vor einer düsteren Zukunft warnen.

Es bleibt nur wenig Zeit

Das, was den «Klimaklebern», wie sie auch genannt werden, allerdings mit Abstand am häufigsten um die Ohren fliegt, ist, was die genervten Autofahrer:innen, von denen Susanne Koch spricht, provoziert: ihre Aktionsform des friedlichen Störens. Besonders bekannt und gefürchtet sind jene Blockaden, bei denen sich manche auf der Fahrbahn festleimen. Seit einigen Tagen praktiziert die Gruppe zudem etwas Neues: das extrem langsame Schleichen auf der Strasse, quasi eine Spontandemonstration in Zeitlupe. Letzten Samstag wurden Luxusboutiquen in Berlin mit Farbe beworfen; in der Vergangenheit gab es auch Aktionen in Museen oder an Denkmälern. Fast alle Proteste sorgen für grosse mediale Aufmerksamkeit. Eine von manchen Linken und zuletzt auch aus den Reihen von Fridays for Future geäusserte Kritik lautet indes, dass die Letzte Generation Leute gegen sich aufbringe, die man doch dringend für radikale Klimaschutzmassnahmen gewinnen müsse.

Das aber ist gar nicht vorrangiges Ziel der Gruppe. Ihre Grundidee ist einfach: Um eine unkontrollierbare Erderhitzung noch abzuwenden, blieben lediglich zwei bis drei Jahre Zeit. Also müsse jetzt schnell gehandelt werden – gewaltfrei, auch das ist der Letzten Generation wichtig. Als Gründungsereignis gilt ein Hungerstreik von sieben jungen Menschen im Spätsommer 2021. Seitdem ist die Gruppe gewachsen und hat sich professionalisiert. Für die Aktionen in Berlin hätten sich 1400 Freiwillige angemeldet, gab die Letzte Generation gegenüber Medien bekannt.

Freilegen von Abgründen

1400 Menschen sind in der Tat keine Massenbewegung, aber offenbar genug, um Politik und Öffentlichkeit an den Rand des Wahnsinns zu treiben. Denn eines muss man den Aktivist:innen lassen: Sie schaffen es, Abgründe im gesellschaftlichen Bewusstsein freizulegen; die Reaktionen auf ihre Aktionen haben es in sich. Das lässt sich auch am Montag beobachten. An dreissig Orten gibt es an diesem Morgen in Berlin Blockaden, die Beeinträchtigungen des Verkehrs sind erheblich. Einer der Blockadepunkte ist die Bundesallee im eher bürgerlichen Stadtteil Wilmersdorf. Dort setzen sich gegen 7.30 Uhr acht Personen auf eine Seite der Fahrbahn, unschwer zu erkennen an ihren Warnwesten und den ausgerollten Transparenten. Fünf kleben sich mit einer Hand am Asphalt fest, die drei in der Mitte Sitzenden nicht. Sofort kommt der Verkehr zum Erliegen, einige Autos und Motorräder weichen noch über den Bürgersteig aus, dann geht nichts mehr.

Die Blockade wird viele Stunden andauern – auch, weil die Polizei offenbar mit den vielen gleichzeitig stattfindenden Aktionen alle Hände voll zu tun hat. Noch bevor zwei Beamte auftauchen, versuchen Autofahrer, die Räumung selbst in die Hand zu nehmen, und zerren zwei junge Blockierer brutal von der Strasse. Die wehren sich nicht – und nehmen kurz darauf wieder Platz. Vorbeikommende beschimpfen die Aktivist:innen als «arbeitsfaules Gesindel» oder «Wichser, die mal arbeiten gehen sollen», man solle ihnen «die Hand einfach abhacken». Einer spuckt auf die Blockierer. Doch das ist nur der eine Teil der Reaktionen: Einige bekunden auch ihre Anerkennung für die Aktion, applaudieren und sprechen den «Klebis» Mut zu.

Stichworte zur Eskalation

Als diese schon mehr als eine Stunde auf der Strasse sitzen, kommt eine Frau auf dem Velo vorbei und bleibt stehen. «Ihr seid super! Ich wünschte, ich wäre auch so mutig», ruft sie und erklärt auf Nachfrage, dass «die sich doch für was einsetzen, das für uns alle wichtig ist». Sie kennt die Forderungen ziemlich genau, sie kann sie aufzählen: die Einrichtung eines per Los bestimmten Gesellschaftsrats, der sozialökologische Massnahmen gegen die Klimakrise erarbeiten soll; die Wiedereinführung eines dauerhaften Neun-Euro-Tickets und ein Tempolimit auf Autobahnen. «Das ist doch einfach richtig und nicht schwer umzusetzen. Es ist die Politik, die blockiert», sagt sie aufgebracht, während im Hintergrund eine andere Frau die Blockierer anschreit, sie seien «Gewalttäter». Solche Reaktionen scheinen in keinem Verhältnis zu den zahmen Forderungen und der fast schon provozierenden Friedfertigkeit der Aktivist:innen zu stehen, zumal in einer Stadt wie Berlin, die Staus und Proteste gewohnt ist wie keine andere in der Bundesrepublik. Andererseits: Aus Politik und Teilen der Medien, die «Klimaterroristen» raunen, werden seit Monaten zuverlässig Stichworte für die aufgebrachten Autofahrer:innen geliefert.

Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) etwa verurteilte erst vor einigen Tagen Akte von Selbstjustiz gegen Blockierende nur sehr zögerlich: «Das muss leider dann eben auch zur Rechenschaft gezogen werden.» Klima­­schützer:innen kritisierten das umgehend als Ermunterung zur Gewalt. Bundesjustizminister Marco Buschmann von der FDP rückte die Klimablockaden in die Nähe von Strassenschlachten zwischen Nazis und Kommunisten im Berlin der 1920er und 1930er Jahre. Am Freitagabend verbreitete sich zudem ein Video viral, in dem ein Polizist einen friedlichen Blockierer mit einem groben Griff an den Hals zum Aufstehen zwingt und den vor Schmerz brüllenden jungen Mann mit einem Kollegen über die Strasse schleift. Wenige Sekunden zuvor hatte er versprochen: «Wenn ich Ihnen Schmerzen zufüge, wenn Sie mich zwingen, werden Sie die nächsten Tage Schmerzen beim Kauen und beim Schlucken haben.»

Dass die heftigen Reaktionen von Autofahrer:innen wie auch regelmässig dokumentierte Polizeigewalt ihnen zusetzen, berichten die Mitglieder der Letzten Generation immer wieder. Allerdings sind diese Reaktionen durchaus einkalkuliert, der Umgang damit wird in Aktionstrainings geübt. Die Blockaden sollten, so erklärt es die Gruppe in Strategiepapieren, die Politik in ein Dilemma bringen und Handlungen erzwingen: entweder den Forderungen der Gruppe nachzukommen oder so heftige Gegenmassnahmen zu ergreifen, dass dies der Legitimität der Politik ebenfalls schade.

Zumindest der Plan mit den heftigen Gegenmassnahmen scheint aufzugehen: Etliche Aktivist:innen müssen sich derzeit bereits vor Gericht verantworten, weitere werden dazukommen. Allein am Montag nahm die Polizei in Berlin über 200 Menschen fest. Zum Teil werden auch die Prozesse wieder medienwirksam genutzt. So wie im März, als sich der Aktivist Henning Jeschke während seiner Verhandlung an einem Tisch festklebte. Diese Mischung aus Mut und Unbeirrbarkeit dürfte einigen, die ohnehin ein Unbehagen im Angesicht der drohenden Klimakatastrophe verspüren, imponieren – und die Gruppe weiter wachsen lassen.

Massenprotest in London : The big one

Der britische Ableger von Extinction Rebellion (XR) ist seit dem vergangenen Wochenende wieder da: Unter dem Titel «The big one» hat XR zusammen mit Organisationen wie Greenpeace und Friends of the Earth während vier Tagen London mit vielfältigen Aktionen in Beschlag genommen, jedoch auf die frühere Taktik von Strassenblockaden durch Menschenmassen verzichtet.

Zuvor hatten die Aktivist:innen für vier Monate eine Pause eingelegt, um ihre Strategie zu überdenken. Am Sonntag sind laut dem TV-Sender Sky News rund 50 000 Menschen durch London marschiert, sie haben von der Regierung den sofortigen Stopp der Erschliessung neuer fossiler Quellen gefordert. Zudem verlangten sie die Einberufung von Bürger:innenversammlungen, die über Massnahmen beraten sollen, wie die Klimakrise bewältigt werden kann. Der Regierung ist bis Montagabend Zeit gegeben worden, auf die Forderungen zu reagieren. Das hat sie nicht getan.

XR will nun deshalb in einem zweiten Schritt die Organisierung der Bevölkerung auf lokaler Ebene ausbauen. Sie will nach eigenen Angaben «innert drei Monaten einen Plan erstellen, um den grössten zivilgesellschaftlichen Widerstand aufzubauen, den das Land je gesehen hat». Ziel ist eine Kampagne mit unterschiedlichen Taktiken, «bei denen sowohl jene mittun können, die sich zum ersten Mal an einer Aktion beteiligen, als auch jene, die bereit sind, ins Gefängnis zu gehen».

An den Aktionen vom Wochenende war auch die Gruppe Just Stop Oil beteiligt – deren Aktivist:innen sich in den letzten Monaten ähnlich wie Letzte Generation und Renovate Switzerland etwa auf Strassen geklebt hatten. Die britische Regierung hat die Repression gegen solche Aktionen massiv verschärft. So wurden vergangene Woche die beiden Aktivisten Morgan Trowland und Marcus Decker zu drei beziehungsweise zwei Jahren und sieben Monaten Haft verurteilt, weil sie auf eine Autobahnbrücke in London geklettert waren und so zu deren Sperrung für vierzig Stunden beigetragen hatten.