Kampf um Bergkarabach: «Die Welt verschliesst die Augen»

Nr. 6 –

Keine Medikamente, rationierte Lebensmittel: Seit zwei Monaten ist die einzige Zufahrt nach Armenien versperrt – 120 000 Menschen sind praktisch von der Aussenwelt abgeschnitten. Zeugnisse eines Lebens unter der Blockade.

leere Kühlregale in einem Geschäft in Stepanakert am 7. Januar
Leergefegte Kühlregale: Geschäft in Stepanakert am 7. Januar. Foto: Edgar Harutyunyan, Keystone

Jeden Tag, erzählt Sasun Davtyan via Whatsapp, fahre er mit den Augen die Umrisse seines Sohnes auf dem Handydisplay ab: die Hände, die Füsse, das Köpfchen mit den braunen Haarbüscheln. Er wolle nicht verpassen, wie sein Kind wachse. Manchmal, wenn das Internet stabil sei, filme sich Davtyans Frau mit dem vier Monate alten Baby vor dem Spiegel. Das helfe dem Vater – 330 Kilometer entfernt in Armeniens Hauptstadt Eriwan. Oft breche die Verbindung jedoch mitten im Videoanruf ab. Mal bloss für wenige Sekunden, mal höre er einige Stunden lang nichts.

Eigentlich wollte der 34-jährige Finanzdirektor im Dezember nur für ein paar Tage beruflich nach Eriwan reisen: ein kurzer Unterbruch der Ferien bei den Schwiegereltern in Stepanakert, der Hauptstadt Bergkarabachs. Nun ist daraus ein Abschied auf unbestimmte Zeit geworden: Seit dem 12. Dezember ist der Latschin-Korridor blockiert, die einzige Zufahrtsstrasse zwischen Armenien und dem De-facto-Staat Arzach, wie die mehrheitlich armenische Bevölkerung Bergkarabach nennt. Vermeintliche Umweltaktivist:innen aus Aserbaidschan versperren den Weg. Viele internationale Expert:innen gehen mittlerweile davon aus, dass Baku sie gezielt steuert. 120 000 Menschen sind so weitestgehend von der Aussenwelt abgeschnitten – darunter Davtyans Familie.

Begründete Angst

Aus der Blockade erreichte Davtyan vor einigen Tagen ein Foto seiner Frau. Darauf sind Gutscheine in verschiedenen Farben zu sehen – die Behörden in Bergkarabach haben mittlerweile die Lebensmittel rationiert. Jede Person erhält pro Monat je ein Kilogramm Reis, Buchweizen, Pasta, Zucker und einen Liter Sonnenblumenöl. Frisches Obst, Gemüse und Milchprodukte sind zur Mangelware geworden, die Regale der Supermärkte sind leer gefegt, da die üblichen Lieferungen aus Armenien ausbleiben.

Allein die Hilfskonvois des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) können den Verbindungsweg nach Bergkarabach passieren und die Bevölkerung mit dem Nötigsten wie Babynahrung und Medikamenten versorgen. Mehr als siebzig medizinische Notfallpatient:innen hat das IKRK seit Beginn der Blockade evakuiert, 95 Menschen beidseits des Korridors mit ihren Familien vereint. Davtyan und seine Angehörigen waren bislang nicht dabei. Die Organisation kümmere sich zunächst um die dringlichsten Fälle, habe das IKRK ihm mitgeteilt. «Viele Menschen sind in der Schlange vor uns dran», sagt er.

Seine Frau beklage sich kaum. Um ihn nicht zu beunruhigen, verschleiere sie, wie es ihr wirklich gehe, glaubt Davtyan. Auch er selbst wolle kein Mitleid. Doch in einigen Momenten würden sich die Zweifel anschleichen, das Gefühl, als Vater «seiner Verantwortung nicht gerecht zu werden»: «Meine grösste Sorge ist, dass es zur militärischen Auseinandersetzung kommt. Wie soll sich meine Familie in ihrem Keller um das Kind kümmern?»

Die Angst ist begründet. Seit Jahrzehnten tragen Armenien und Aserbaidschan in Bergkarabach einen blutigen Konflikt aus. Er eskalierte mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, mündete in beidseitige Zwangsvertreibungen und in einen ersten Krieg. Unter den ethnischen Armenier:innen in Bergkarabach verstärkte sich der Wunsch nach Unabhängigkeit. Völkerrechtlich gehört die Region jedoch zu Aserbaidschan. 2020 kam es zu einem zweiten Krieg mit rund 6500 Toten, Aserbaidschan eroberte grosse Teile Bergkarabachs und umliegende Regionen zurück. Der Latschinkorridor wird seither von russischen «Friedenstruppen» bewacht.

Das durch den Krieg gegen die Ukraine abgelenkte Moskau hält sich seit Blockadebeginn allerdings zurück. Wie schon während der jüngsten militärischen Eskalation im September, als Baku erstmals armenisches Staatsgebiet angriff. Und das, obwohl Russland und Armenien Teil der «Ost-Nato», des Militärbündnisses OVKS, sind.

Ein Einschussloch im Bürofenster

Laut Eriwan hat Aserbaidschan seit den Septemberangriffen Stellungen in Armenien ausgebaut. Mit der Blockade scheint Baku nun zusätzlich Druck ausüben zu wollen. Glaubt man der Rhetorik von Machthaber Ilham Alijew, geht es ihm längst nicht mehr nur um Bergkarabach, sondern auch um «West-Aserbaidschan», wie er Armenien mehrfach bezeichnet hat. Mit Blick auf die Blockade Bergkarabachs liess Alijew jüngst verkünden, allen Armenier:innen stehe es frei, die Region zu verlassen, sollten sie nicht aserbaidschanische Staatsbürger:innen werden wollen. Armenien wertet das als Erpressung und wirft Baku «ethnische Säuberung» vor.

Bergkarabach zu verlassen, wo ihre Familie seit Generationen lebt, kann sich Elen Avanesyan nicht vorstellen. Auch wenn sie beinahe täglich an die angespannte Lage erinnert wird. Seit dem Krieg von 2020 klaffe im Fenster ihres Büros bei der Telecom in Stepanakert ein Einschussloch, erzählt die 47-Jährige am Telefon. Schon während des Krieges ging sie jeden Tag ins Büro, half, das Netz aufrechtzuerhalten. Daran habe die Blockade nichts geändert. Rund 5000 Menschen haben laut offiziellen Angaben hingegen seit Dezember ihren Job verloren. Ihnen versprechen die Behörden in Bergkarabach 68 000 Dram pro Monat, umgerechnet rund 150 Franken.

Verglichen mit anderen gehe es ihr gut, sagt Avanesyan. Ihre Mutter und die achtzehnjährige Tochter würden die Alleinerziehende unterstützen, sich in den Schlangen vor den Supermärkten anstellen, falls es doch mal ein paar Eier zu kaufen gebe. Fragt man sie aber nach ihrer Zukunft, hält auch sie inne. «Ich habe Brustkrebs», sagt sie. Sie sei bereits operiert worden, doch bei der letzten Untersuchung habe man Auffälligkeiten in der Lunge festgestellt. Im Januar hätte die nächste Kontrolle angestanden – in Eriwan. In Stepanakert gebe es nur wenige Spezialist:innen. Nun wartet auch Avanesyan auf eine Nachricht vom Roten Kreuz.

Neulich sei es ihr immerhin gelungen, Medikamente, die sie sich gewöhnlich aus Deutschland schicken lasse, in einem der Hilfskonvois unterzubringen. «Wir in Arzach sind stur», sagt Avanesyan. Doch lange könne die Blockade so nicht weitergehen. «Die Welt verschliesst die Augen davor, was hier passiert», sagt sie. «Das ist sehr schmerzhaft.»

Neben ein paar Aufrufen zur Deeskalation aus Washington ist es vor allem die EU, die seit einigen Monaten verstärkt Präsenz zeigt: Von Oktober bis Dezember schickte Brüssel vierzig zivile Beobachter:innen auf die armenische Seite der Grenze. Und der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell kündigte im Januar eine weitere Mission mit hundert Beobachter:innen an, die zwei Jahre dauern solle, und sprach von einer «neuen Phase des EU-Engagements im Südkaukasus».

Zugleich buhlt die EU um die Gunst Bakus: Im Sommer 2022 unterzeichnete Kommissionschefin Ursula von der Leyen eine Absichtserklärung mit Alijew, um die Gaslieferungen nach Europa zu verdoppeln. Prompt lieferte Baku über die Pipelines des südlichen Gaskorridors 11,4 Milliarden Kubikmeter, 2011 waren es noch 8,1 Milliarden gewesen. Am Freitag reiste Energiekommissarin Kadri Simson nach Baku. Sie kündigte an, die Energiekrise zu einem «Motor wirtschaftlicher Chancen» zu machen und auch im Bereich der erneuerbaren Energien künftig enger zusammenarbeiten zu wollen.

Kein Recht auf Bildung

Dass Russlands Gazprom seit einigen Monaten mehr Gas an Aserbaidschan liefert, ist in Brüssel bekannt. Wie man sicherstelle, dass russisches Gas dadurch nicht auf Umwegen auch in die EU gelange, darauf geht die Kommission auf Anfrage der WOZ nicht ein. Auch nicht, ob bei Simsons Besuch in Baku über die Blockade Bergkarabachs gesprochen wurde.

In der umstrittenen Region bleibt seit der Blockade öfter die Heizung kalt. Viele Bewohner:innen vermuten dahinter Sabotage aus Aserbaidschan. Wegen der schlechten Versorgungslage liegt auch die Arbeit von Ashot Avanesyans Techinitiative derzeit fast brach. Vor einigen Jahren begann der 29-Jährige aus dem Dorf Mushkapat gemeinsam mit seiner Frau und einigen Gleichgesinnten, Teenager:innen das Programmieren beizubringen. Damit wollte er zum Gemeinwohl in Bergkarabachs ländlichen Regionen beitragen.

Dorthin hatte es Avanesyan nach seinem Studium in Stepanakert erneut verschlagen. Seine eigenen Kinder, erzählt er am Telefon, sollten wie er in der Natur aufwachsen. Weil der Treibstoff knapp ist und viele Schulen schliessen, müssen Avanesyan und sein Team ihre Techkurse nun oft umplanen. Wenn es das Internet hergibt, unterrichten sie online. Den Kindern werde mit der Blockade ihr Recht auf Bildung genommen, sagt Avanesyan. Er fühle sich manchmal schlecht, seine eigenen Kinder dieser Situation auszusetzen. Doch auch er will Bergkarabach nicht verlassen. «Ich fühle mich wie der Zweig eines Feigenbaums, der weiterwachsen soll», sagt er. Dann bricht die Verbindung ab.