Literatur: Im Bann des Glattzentrums
Zwei furchtlose Freundinnen bringen allerhand ins Rollen. Judith Keller lädt mit ihrem Roman «Wilde Manöver» zu einem schillernden Roadtrip durch ein mystisches Zürich ein.

Es ist ein flirrend heisser Sommer, in dem Vera und Peli aufhören, ihre Rechnungen und Wohnungsmieten zu bezahlen. Weshalb, wissen sie nicht genau. Vielleicht liegt es an den fehlenden Jobs, oder wie Vera es ausdrückt: «Es war eher ein Gefühl. Wir dachten wahrscheinlich, dass wir unsere Mieten schon so lange bezahlt hatten, dass wir auch einmal damit aufhören könnten.» Aber reicht die prekäre finanzielle Situation der Freundinnen aus, um in einen lukrativen Kokaindeal verwickelt zu sein?
Im neuen Roman von Judith Keller glaubt das zumindest die Polizei. Bereits in ihrem Debüt, «Oder?» (Der gesunde Menschenversand, 2021), liess die in Zürich lebende Lyrikerin ihre zwei eigenwilligen Romanfiguren in der Überzeugung, «nicht gut geschrieben zu sein», gegen den Plot ihrer eigenen Geschichte rebellieren. Und auch die Protagonistinnen in «Wilde Manöver» wollen sich nicht so recht mit dem wahllosen Dahinplätschern ihrer Gegenwart zufriedengeben. Auf dem Polizeiposten der Kantonspolizei Zürich setzt Kellers dramaturgisch ausgeklügelter Text ein. Dort sitzt die redselige Vera, nachdem ihrer Gefährtin Peli die Flucht gelungen ist. Sie wird aufgefordert, von einer Reihe Verbrechen zu erzählen, die die beiden angeblich begangen haben. Vorgelegt bekommt sie eine verhängnisvolle Videoaufnahme aus dem Parkdeck des Glattzentrums, die zeigt, wie die zwei Freundinnen einen Lieferwagen entwenden.
Nüssli und zwanzig Kilogramm Koks
Diesen Umstand bestreitet Vera nicht, wohl aber, gewusst zu haben, dass im Wagen zwanzig Kilo Kokain gelagert waren. Der Diebstahl sei einer spontanen Eingebung geschuldet gewesen, ausgelöst durch zwei Kräne. Der erste habe sich über den Häusern von Schwamendingen «in Zeitlupentempo» von rechts nach links gedreht und ihnen den Weg zum Glattzentrum gewiesen. Zweiterer zeigte auf das Parkdeck zum unabgeschlossenen Mercedes. Ein «helles Kribbeln» habe sie erfasst, die Freundinnen nennen es fortan ihre «flatternde, prachtvolle Ungeduld». Und eine solche Ungeduld erfordert, dass etwas passiert, das versteht sich in «Wilde Manöver» von selbst.
An dieser Stelle nehmen Veras Erzählungen rasant Fahrt auf, und eine Kette von Ereignissen setzt sich in Gang. Mit geklautem Lieferwagen, Weisswein und Salznüssen brausen die beiden Hauptfiguren durch Zürich Nord. Sie kidnappen Gartenstühle, Skulpturen und eine Meerjungfrau aus Marmor, ordnen die Gegenstände auf einem Parkplatz in Oberwindisch neu an oder werfen sie von der Quaibrücke in die Limmat. «Das eine führte zum anderen in jener Nacht, alles schien naheliegend», erinnert sich Vera auf dem Polizeirevier.
Eine heitere, euphorisierende Fröhlichkeit sickert aus allen Seiten der aussergewöhnlichen Aufbruchsgeschichte, die sich zu einem viertägigen Trip durch Zürich entwickelt. Peli und Vera sind dabei von einer fast schon infernalischen Freude am Absurden angetrieben. Und immer wieder begegnen den Freundinnen unterwegs seltsame Zeichen: «Eine schäbige Red-Bull-Dose schwamm vorbei und zeigte Richtung Hardbrücke. Wir hatten keine Kraft, uns ihr zu widersetzen.» Die Bedeutung ihrer Irrfahrt, das behauptet zumindest Vera, könne erst nachträglich eruiert werden. «Wenn etwas Sinn ergibt, dann im Nachhinein», sagt sie. «Darauf kann man sich verlassen.» Das bringt den Polizisten zur Verzweiflung, der in ihrer Geschichte nach Zusammenhängen sucht. Und ihr kein Wort glaubt.
Zum Fiebertraum mutiert
Keller, die Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel studiert hat, schafft es in «Wilde Manöver» nicht nur, die aberwitzigen Erkundungen ihrer beiden Protagonistinnen lustvoll zu beschreiben, auch Konsumpaläste wie das Glattzentrum werden zu einem verheissungsvollen Labyrinth, in dem es eine ominöse letzte Tür namens «P11» zu finden gilt. Und die Morgenröte verleiht gar dem Antlitz des NZZ-Gebäudes einen mystischen Anstrich.
Knappe Beschreibungen wie «Das andere Seeufer war noch nicht ganz bei sich, verschwommen lag es in einem dunstigen Licht» oder «Wir haben nichts gegen Männer, aber wir sehen nicht ein, warum wir auf sie warten sollten» ziehen sich durch den Roman, in dem auch die Menschen nicht ganz bei sich, immer etwas «durch» oder «vergriffen» sind. Die Szenen kippen ständig ins Komische, ohne platt zu wirken, und an manchen Stellen mutiert «Wilde Manöver» gar zum Fiebertraum. Dann führt die übermüdete Vera an der Tramstation «Schwert» auch mal ein Zwiegespräch mit Tina Turner, wohl wissend, dass diese bereits tot ist.
Kellers drittes Buch ist eine Liebeserklärung an das Chaos, ein literarischer Tanz auf dem schmalen Grat zwischen Wahn- und Unsinn, aber auch ein Ausdruck von Widerstand. Die Protagonistinnen widersetzen sich erfolgreich jeglichen Ansprüchen an Produktivität und Zweckmässigkeit. Und sie erklären Zürich, eine Stadt, in der schon mal der Eindruck entsteht, dass ein guter Job für die Daseinsberechtigung unabdinglich ist, zu ihrem Spielplatz.
Bedrückend an diesem Roman ist einzig, dass es sich beim Lesen der fast 300 Seiten genauso verhält wie mit aberwitzigen Roadtrips: Sie sind viel zu schnell vorbei.
Buchpremiere am Donnerstag, 28. September 2023, um 19.30 Uhr im Literaturhaus Zürich.
