Miranda July: Beim Einparkieren den Ausweg finden
Ist es Wahnsinn, oder sind es die Wechseljahre? Ein Glück, dass die Ausnahmekünstlerin Miranda July einen Roman über die Menopause geschrieben hat. Er ist traurig, schlau und sehr sexy.
Die Reise ist akribisch durchgeplant: Sie würde jeden Tag acht Stunden Auto fahren. Kraftriegel zum Frühstück, Fahrtkleidung mit UV-Schutz und Benadryl für einen tiefen Schlaf sind eingekauft, zwölf Hörbücher sowie Playlists von Freund:innen sind vorbereitet. Eine Woche nachdem sie Los Angeles verlassen hatte, würde sie in New York ankommen. Dort würde sie mit Freundinnen während einer Woche die 20 000 US-Dollar verpulvern, die ihr ein Whiskeyhersteller bezahlt hatte, für einen einzigen Satz. Dann würde sie während einer Woche wieder nach Hause fahren.
«Einparker» und «Fahrer»
So der Plan der namenlosen Ich-Erzählerin in Miranda Julys soeben erschienenem Buch «Auf allen vieren». Doch wer das Schaffen der fünfzigjährigen amerikanischen Ausnahmekünstlerin kennt, ahnt schnell, dass das Buch kein Roadtrip wird und alles anders kommt, als es die Protagonistin plant. Denn ums Scheitern ihrer Figuren drehen sich die meisten von Julys Arbeiten: die Kurzgeschichten im Band «Zehn Wahrheiten» (2008) oder die Filme «Me and You and Everyone We Know» (2005) und «The Future» (2011). Allerdings ist Scheitern bei July nichts Negatives oder Endgültiges, und sie verkauft es auch nicht als Chance für etwas Besseres: Es gibt schlicht keinen anderen Weg für ihre Protagonistinnen, als an sich und ihren Vorsätzen zu scheitern.
Das gilt auch für die Ich-Erzählerin in «Auf allen vieren». Die 45-jährige, mittelmässig erfolgreiche Künstlerin lebt mit ihrem Mann Harris, einem Musikproduzenten, und ihrem Kind Sam in einem Haus in Los Angeles. Ihre geplante Autofahrt ist die Reaktion auf eine Aussage von Harris. An einer Party hatte er grossspurig erklärt, es gebe «Einparker» und «Fahrer»: «Die Fahrer schaffen es, selbst wenn das Leben langweilig ist, wach und bei der Sache zu bleiben.» Einparker hingegen bräuchten eine klar definierte, praktisch unmögliche Aufgabe, die ihnen Applaus bringen würde. Die restliche Zeit würden sie sich langweilen und seien enttäuscht. Dass er ein «Fahrer» ist und seine Frau eine «Einparkerin», ist klar. Dadurch provoziert, beschliesst sie, zur «Fahrerin» zu werden. Nach dieser Reise, so redet sie sich ein, würde sie «wissen, dass ich endlich zu Hause war, so zu Hause wie nie zuvor».
Doch in Monrovia, bloss eine halbe Stunde von L. A. entfernt, ist Schluss. Und schnell wird klar: Einparkerin bleibt Einparkerin. Nachdem ihr Davey, ein gut aussehender junger Mann, die Scheiben geputzt hat, mietet sie sich ein Hotelzimmer, lässt es von Daveys Freundin für 20 000 Franken zur Luxussuite aufpeppen, bleibt drei Wochen hier, masturbiert stundenlang und beginnt eine Affäre mit Davey.
Ist es Liebe, Lust, Flucht vor dem Familienleben, purer Wahnsinn – oder sind es die Wechseljahre? July erzählt ohne jegliche Esoterik, dafür mit sehr viel Erotik und Selbstironie, aber auch traurig und sehr ernsthaft von der Selbstsuche einer Mittvierzigerin. Wie in einem Rausch steigt sie vorübergehend aus ihrem vermeintlich glücklichen, aber leidenschaftslosen Leben aus und folgt ihrem körperlichen Verlangen.
Promiskuität als Geburtsrecht
Bereits in ihrem Romandebüt «Der erste fiese Typ» (2015) hat sich July als Expertin im detaillierten Beschreiben von unkonventionellen Sex- und Liebesszenen erwiesen. Und auch in «Auf allen vieren» wird weiter unverblümt gefummelt, geleckt, gefingert, gerieben, geflüstert und fantasiert. Das liest sich manchmal verstörend und mit Fremdscham, meist aber vergnüglich und sehr lustvoll. So wird bei July ein Tamponwechsel gemeinsam mit Davey zu einem erotisch-zärtlichen Akt der Liebe, und der Sex mit der sehr viel älteren Audrey bringt der Protagonistin schliesslich die ersehnte körperliche Freiheit. Diese «fühlte sich intuitiv und gesund an, als wäre Promiskuität mein Geburtsrecht als Frau».
Themen wie Schwanger- und Mutterschaft werden in der Literatur seit längerem verhandelt (und tatsächlich ist Julys Buch auch ein Buch über das Muttersein), die Wechseljahre eher weniger. Dass ausgerechnet Miranda July nun mit «Auf allen vieren» einen Roman dazu geschrieben hat, ist ein grosses Glück – wer sonst könnte so sinnlich, schlau und existenziell über Verlangen und Veränderungen des alternden weiblichen Körpers schreiben?
Die zahlreichen Gespräche der Protagonistin mit Freundinnen eröffnen ein vielfältiges Panorama auf die Wechseljahre und den Umgang damit. In Dialogen mit einer Gynäkologin streut Miranda July wiederum fachliche Informationen ein, und auf einer Seite ist ein Diagramm über Östrogen- und Testosteronwerte abgedruckt. «Auf allen vieren» ist mehr als ein Roman, es ist ein (Über-)Lebensprojekt der Künstlerin. «Wer will ich als Sterbende sein?», mit diesem Gefühl habe sie das Buch geschrieben, wird sie im «Guardian» zitiert.
So ist es auch kein Zufall, dass es (wie oft bei July) auch hier viele offensichtliche biografische Parallelen zwischen ihr und der Protagonistin gibt. Und dass sie sich auch in anderen Kunstwerken des Themas annimmt: Julys aktuelle Videoinstallation, die zurzeit in der Fondazione Prada in Mailand zu sehen ist, heisst «F.A.M.I.L.Y. – Falling Apart Meanwhile I Love You».