Menschenhandel: Fakten und MythenStereotype Opferbilder, die «Loverboy Panic» oder die Behauptung, dass Sexarbeit nie freiwillig ausgeübt werde: Rund um das Thema Menschenhandel existieren einige Mythen, die die Debatte verstellen. Ein Faktencheck.

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Mythos 1: Fesseln und Handschellen

Ketten an den Handgelenken, Fussfesseln – die Bilder, mit denen viele Kampagnen gegen Menschenhandel oder Medienartikel zum Thema illustriert werden, zementieren stereotype Vorstellungen. Doch es entspricht in den allermeisten Fällen nicht der Realität, dass Menschen mit Gewalt verschleppt werden, um anschliessend angekettet und als Sexarbeiter:innen ausgebeutet zu werden. «Die Fesseln existieren in anderer Form», sagen Fanie Wirth und Lelia Hunziker von der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration Zürich: «Es geht um Schuldknechtschaft, Drohungen gegen Familienangehörige im Herkunftsland und vor allem um ausländerrechtliche Abhängigkeiten.»

Expertinnen wie Wirth und Hunziker betonen, man müsse die strukturellen Ursachen in den Blick nehmen: «Die meisten Sexarbeiter:innen, die Opfer von Menschenhandel sind, wollten aus eigenem Antrieb aus ihrem Herkunftsland ausreisen, um ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten zu verbessern. Doch je undurchdringlicher die Grenzen sind, desto ausbeutbarer sind die Menschen, weil sie zu ihrer Überwindung auf Dritte angewiesen sind.»

Die Aktivistinnen Juno Mac und Molly Smith schreiben in ihrem Buch «Revolting Prostitutes»: «Menschenschmuggel betrifft in der Regel Migrant:innen, die das Geld haben, einen Schlepper im Voraus zu bezahlen, oder die bereits Kontakt im Zielland haben, Menschenhandel dagegen noch schutzbedürftigere Migrant:innen: diejenigen, die sich für die Reise bei einem Schlepper verschulden müssen und die keine Verbindungen ins Zielland haben. Beide wollen jedoch reisen, und genau das wird in Diskussionen über Menschenhandel mit ihren Geschichten über Entführungen und Ketten weitgehend verschleiert.»

Dass sich Kampagnen gegen Menschenhandel häufig explizit auf sexuelle Ausbeutung beziehen, verschleiert noch eine weitere Tatsache: Menschenhandel betrifft längst nicht nur den Bereich Sexarbeit, sondern genauso oft auch andere Branchen wie die Care-Arbeit, die Gastronomie oder den Bausektor. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) geht nach neusten Schätzungen davon aus, dass weltweit rund 27,6 Millionen Menschen von Zwangsarbeit betroffen sind, davon würden 6,7 Millionen sexuell ausgebeutet.

eine Person sitzt an einem Tisch und blickt auf ihr Smartphone
Foto: Franziska Kleinsorg

Mythos 2: Loverboys

Wird über Frauenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung berichtet, hat in den Medien seit einigen Jahren ein Thema Hochkonjunktur: das Phänomen des Loverboys. Herzzerreissende Geschichten von jungen Mädchen, die von älteren, migrantisch gelesenen Loverboys verführt, in die Abhängigkeit getrieben und schliesslich in die Prostitution gezwungen werden, sind auf allen Kanälen zu sehen. Dass es solche Fälle gibt, bestreiten auch Expert:innen nicht. Problematisch ist jedoch, dass oft freikirchlich geprägte Organisationen das Thema überproportional pushen – und damit Agenda Setting betreiben.

Fanie Wirth sagt: «Wer sich auf das Phänomen Loverboy beruft, meint implizit das unschuldige Schweizer Mädchen, das vom migrantischen Täter ausgebeutet wird.» Ein Fokus, der den Blick auf strukturelle Ungleichheiten verstelle: «99 Prozent der Opfer sind migrantisch. Nicht weil sie schwächer sind, sondern weil sie das System verletzlicher macht.» Die auf Menschenhandel spezialisierte Fachgruppe für Milieu- und Sexualdelikte der Stadtpolizei Zürich schreibt, es komme vor, dass Frauen schrittweise von Männern umworben und schliesslich in die Prostitution gezwungen würden. Auch von diesem Vorgehen seien aber in erster Linie migrantische Frauen betroffen. «Aus unserer Sicht jedoch weniger häufig als früher. Das Thema Loverboy schätzen wir zusehends eher als ein Randphänomen ein.»

Die Loverboy-Kampagne erinnert frappant an die Kampagnen der christlich-bürgerlich geprägten Frauenbewegung ab dem späten 19. Jahrhundert. Damals verbreitete diese den Mythos, dass unschuldige weisse Mädchen en masse von Migranten entführt und in die Sexsklaverei gezwungen würden. Die «white slave panic» in den USA und Europa erreichte ihren Höhepunkt im frühen 20. Jahrhundert. Damals erschienen Tausende von Zeitungsberichten, Broschüren, Theaterproduktionen und Predigten mit Titeln wie «Weisse Sklavin in der Hölle» oder «Soziale Bedrohung aus dem Orient». Internationale Kampagnen gegen den «white slave traffic» führten 1904 zum internationalen «White slave»-Abkommen, das als Vorläufer moderner Abkommen zur Bekämpfung von Menschenhandel gilt.

Mythos 3: Prostitution = Gewalt

«Menschenhandel» ist auch ein Codewort. Die Bewegung, die für ein Sexkaufverbot eintritt, operiert äusserst freihändig mit diesem Begriff. Die Sexarbeiter:in und Aktivist:in Ruby Rebelde beschreibt in ihrem Buch «Warum sie uns hassen», wie unscharf Sexarbeitsgegner:innen den Begriff benutzen. «Menschenhandel und Sexarbeit verschwimmen zur Prostitution.»

Die zentrale Gleichung, mit der die Aktivist:innen für ein Sexkaufverbot ihre Forderung untermalen, lautet: Prostitution ist immer Gewalt. Damit insinuiert die Bewegung, keine Frau könne sich selbstbestimmt für Sexarbeit entscheiden. Der Begriff «Sexarbeit» wird abgelehnt, weil Sexarbeit unter keinen Umständen eine normale Arbeit sei. Menschenhandel dagegen wabert in diesem Diskurs über Prostitution immer als Generalverdacht mit. Zahlreiche Organisationen, die sich für ein Sexkaufverbot einsetzen, haben sich den Kampf gegen den Menschenhandel auf die Fahnen geschrieben, zielen mit ihrem Engagement jedoch tatsächlich auf die Eindämmung der Prostitution an sich ab.

Wie gross in der Schweiz der Anteil der Sexarbeiter:innen ist, die sexuell ausgebeutet werden, ist nicht bekannt, es gibt dazu keine verlässlichen Zahlen. Es fehlen nur schon statistische Erhebungen, wie viele Personen überhaupt in der Sexarbeit tätig sind. Schätzungen schwanken zwischen 13 000 und 20 000 Personen. Einziger Anhaltspunkt sind die Zahlen der Plateforme Traite, eines Zusammenschlusses von vier Schweizer Opferschutzstellen. Die Plattform weist für das Jahr 2024 im Bereich «sexuelle Ausbeutung» 114 neu zugewiesene Fälle aus – eine Zahl, die weitgehend mit denen aus den vergangenen Jahren übereinstimmt, aber nur die Fälle abbildet, die über die Polizei oder andere Stellen an die Beratungsstellen überwiesen wurden.

Auch eine behördliche Statistik dazu, woher von Menschenhandel betroffene Sexarbeiter:innen stammen, fehlt in der Schweiz. Die Plateforme Traite hält in ihrer neusten Opferstatistik fest: 46 Prozent der registrierten Opfer stammten aus Afrika, 26 Prozent aus Europa, 17 Prozent aus Lateinamerika. Die häufigsten Herkunftsländer der neu identifizierten Opfer waren Nigeria, Kolumbien und Ungarn. Die Abhängigkeit von ihren Ausbeuter:innen wird für viele dieser Frauen dadurch erhöht, dass sie die hiesigen Strukturen und ausländerrechtlichen Regelungen nicht kennen. Die Stadtpolizei Zürich schreibt: «Viele Opfer kennen die hiesigen Gesetze nicht; Sprach- und Kulturbarrieren stellen eine weitere, nicht zu unterschätzende Hürde dar. Zudem nehmen sich die Betroffenen manchmal selbst nicht als Opfer einer Straftat wahr.»

Mythos 4: Das stille Mädchen und der Clan

Expert:innen betonen: Beim Thema Menschenhandel existierten sowohl stereotype Opferbilder als auch stereotype Täterbilder. Beides verstelle den Blick auf die komplexen Realitäten. Die Fachstelle Menschenhandel und Frauenmigration Zürich hat kürzlich die Studie «Das ideale Opfer» herausgegeben. Darin schreibt die Fachstelle, Opfermythen sorgten dafür, dass viele Betroffene von Menschenhandel nicht als solche erkannt würden. Das «ideale Opfer» sei jung und unbedarft. Es gehe «einer respektablen Tätigkeit» nach, bevor es von Täter:innen verschleppt und in die Sexarbeit gezwungen werde. Dazu sei in der Gesellschaft die Vorstellung von passiven Opfern dominant. Durch diese Vorurteile sei es für Personen, die diesem Bild nicht entsprächen, schwieriger, als Opfer anerkannt zu werden – «etwa trans oder nonbinäre Personen, Männer, alte Frauen oder Betroffene, die aufmüpfig, fordernd und laut sind».

Lelia Hunziker sagt: Entscheidend sei bei der Frage, wer als Opfer identifiziert werde, «natürlich auch immer, worauf der Scheinwerfer gerichtet wird». Traditionell seien auf Menschenhandel fokussierte Polizeieinheiten beim Milieu angesiedelt: «Das hat gute Gründe, weil hier viel Ausbeutung stattfindet. Es hat aber auch zu einer verzerrten Wahrnehmung geführt.» Erst seit einigen Jahren rückten in der Schweiz Ausbeutungsverhältnisse in anderen Branchen vermehrt in den Blick der Behörden: «Auch weil der Nationale Aktionsplan gegen Menschenhandel einen Fokus darauf legt.» Bei der Plateforme Traite sind die registrierten Fälle von Arbeitsausbeutung deutlich angestiegen, auf aktuell 94 im Jahr 2024.

Auf Täterseite wiederum dominiert die Vorstellung von mächtigen, aus dem Ausland gesteuerten Clans und Banden, die das Business beherrschten. Der Nationale Aktionsplan gegen Menschenhandel hält fest: Es existierten zwar «gut organisierte kriminelle Strukturen, die den Menschenhandel kontrollieren oder unterstützen», die meisten Menschenhändler würden jedoch «in kleineren Gruppen oder Netzwerken» agieren. Und auch die Zürcher Polizei schreibt: «Meist steht das Opfer in einem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis zum Täter.» Kaum im Fokus der Ermittler:innen stehen bislang die Schweizer Akteur:innen, die von den Strukturen des Menschenhandels profitieren.